Seefrauengarn


Seefrauengarn
Ich liege auf dem Rücken und schaue in einen blauen Himmel, die Frühlingsonne strahlt. Sachte wiegen die Wellen meinen Körper, doch ich liege in keinem Boot. 3mm Neopren trennen mich vom 6°C kalten Ostseewasser. Die pandemiebedingten Schließungen, auch die der Schwimmbäder, fordern so manchen Verzicht, aber sie fördern auch kreative Lösungsversuche.
Wir gehören zu den glücklichen Menschen, die ein Haus direkt am Meer haben, und unser (fast) tägliches Schwimmen gehört zu meinem Leben, so lange ich denken kann. Eine frühe Erinnerung ist, dass sich meine Händchen an den Schultern meiner Mutter festhalten, während sie schwimmt. Ich liege bäuchlings auf ihrem Rücken und fiebere der nahegelegenen Sandbank entgegen. Dort kann ich stehen und triumphierend auf das Treiben am Strand hinschauen.
Angst vor Wasser und Wellen hatte ich nie. Ganz im Gegensatz zum Fliegen, da schließe ich vorher immer mit meinem Leben ab.

Wenn ich vorhin schrieb, dass der Neoprenanzug vom Ostseewasser trennt, ist das nicht ganz richtig. Beim Eintauchen ergießt sich sofort ein kalter Schwall zwischen Haut und Gummipelle, der aber bald von der Körperwärme erträglich gemacht wird. Das Gesicht ist die einzige Körperpartie, die dem Wasser direkt ausgesetzt ist. Jetzt, bei 6°C, ist das zwar kalt, aber die 1°C im Januar fühlten sich wie ein beißender Schmerz an.
Trotzdem ist das Anschauen des Meeresboden beim Brustschwimmen ein Vergnügen, falls das Wasser so klar ist, dass man ihn sehen kann. Muschelschalen, ein Krebs, der von meinem Schatten erschreckt drohend seine Scherenhändchen nach oben streckt. Manchmal ein Schwarm junger Fische und viele kleine Hügel aus Sandwürsten. Das sind die Lebensspuren von Ringelwürmern. Der Sand enthält Mikroalgen, die den Wurm ernähren; Den Rest Sand scheidet er dann wieder aus.


Vor vielen Jahrzehnten habe ich über das Liebesleben (spannende Strategien!) von Polychaeten, so der Fachbegriff, promoviert. Damals lebte ich auf einer kleinen Felseninsel mitten in der Nordsee. Helgoland ist nur 4 Quadratkilometer groß und das Meer ist allgegenwärtig. Die 15 Jahre dort lebte ich also im Rhythmus der Gezeiten und erlebte alle Spielarten der Jahreszeiten und Wetterphänomene. Von spiegelglatt und sonnenbeschien bis: es ist lebensgefährlich das Haus zu verlassen. Im Winter waren die Schiffsfahrten von oder zu der Insel oft ein Abenteuer; ab Windstärke 10 steuerte der Reederei-Eigner selbst das Schiff. Manchmal musste er noch kurz vor der Insel wieder beidrehen, weil die Fahrrinne dort einen Knick machte und das Schiff bei Böen leicht in die See gedrückt werden konnte. Das war dann besonders frustrierend, wenn man nach 4 Stunden Übelkeit nochmal 4 Stunden zurück überstehen musste. Seekrank zu sein ist wirklich furchtbar, aber trotzdem hatte ich bei diesen Fahrten nie Angst. Vielleicht „liegt das im Blut“, wie unsere Großmama zu sagen pflegte, wenn von Talenten und Neigungen die Rede war, die man sich nicht so recht erklären konnte.
Mütterlicherseits sind es Fischer aus Heiligenhafen und aus noch weiter nördlichen Gegenden; Die Spur unserer Ahnen führt nach Dänemark, Schweden und Finnland. Leider, und hier spricht jetzt die Umweltbewegte, waren auch viele dabei, die auf Walfängern fuhren. Schon im 17. Jahrhundert gab es Überfischungsphänomene. Die Heringsschwärme fielen zwischenzeitlich aus und der Walfang musste viele Fischerfamilien ernähren. Ein gefährlicher Broterwerb, denn vereiste Meere, Skorbut, Piraten und nicht zuletzt die wehrhaften Wale selbst forderten ihren Tribut.
Väterlicherseits sind es die exotischen Lebensentwürfe dreier Urgroßonkel. Zwei waren im Teehandel tätig und brachten von ihren Reisen Geschenke aus Japan und China mit. Mein Vater erinnerte sich gerne an ein Porzellangeschirr seiner Großeltern, das so zart war, dass man fast hindurchschauen konnte. Das einzige überlieferte Zeugnis, das die zweimalige Ausbombung meiner Urgroßeltern im 2. Weltkrieg überlebte sind drei kleine Bände japanischer Sagen auf Reispapier gedruckt. Die Schriftzeichen kann ich leider nicht lesen, aber, so fällt mir gerade ein, könnte ich es mal mit einem Übersetzungsprogramm versuchen.
Das Leben des dritten Urgroßonkels war noch außergewöhnlicher. Als Marineoffizier verliebte es sich kurz vor oder während des 1.Weltkrieges in eine Häuptlingstochter von den Salomonen. Er desertierte, wurde kurzzeitig von den Engländern auf Tulagi interniert, konnte dann aber seine Kafagamurirongo heiraten. Heinrich (Henry) Küper war der einzige Weiße, der auf den Salomonen den arafa- Status einer hochgestellten Person erreicht hat. Er lebte und respektierte die Werte der Eingeborenen, war aber auch geprägt von europäischem kolonialem Denken. Seine Nachfahren leben noch heute auf der Insel Owa Raha.
Und wiederum befindet sich ein Zeugnis davon in meinem Besitz. Ein Exemplar des Briefwechsels unserer Tante Hilda mit Geoffrey Küper, dem ältesten Sohn von Henry und Kafagamurirongo. In den 30er Jahren wurde deren Geschichte durch den österreichischen Forschungsreisenden Hugo A. Bernatzki berühmt. Der war mit seinen Büchern „Südsee“ und „Owa Raha“ ein vielgelesener Autor. So hat denn das Schaukeln der Wellen meine Gedankengänge angeregt und die maritime Familiengeschichte passt gut zu Tanggeruch und Möwengeschrei.


Seit gestern liegt ein Kriegsschiff am Horizont und im relativ nahe gelegenen Sperrgebiet probt die Marine den „Ernstfall“ mit scharfen Schüssen. Das erinnert mich daran, dass nur wenige Jahre vor meiner Geburt ein Weltkrieg tobte. Ein Krieg, zu dessen Beginn mein Onkel Paul nach einem Torpedotreffer seines Handelsschiffes 8 Stunden in den Gewässern vor Portugal trieb, bevor man ihn rettete und dann von England nach Canada als POW (prisoner of war) transportierte. Mein Vater geriet 1944 beim Monte Cassino in Gefangenschaft der Amerikaner und wurde per Schiff in die USA transportiert. Beide hatten Glück und wurden nach anfänglichen harten Wochen dann doch sehr menschenfreundlich behandelt.
Nach einem weiteren Übungsschuss erscheint am blauen Himmel eine graue Wolke, den Nachklang dieser Detonation spüre ich im Wasser.
Ich werde mir gewahr, dass wir nicht nur eine Pandemie und gravierende Umweltprobleme haben, sondern dass auch dieser Frieden, den ich dankbar mein Leben lang erleben durfte, nicht garantiert ist. Nicht für mich und nicht für die folgenden Generationen.


 


 


Vera Schmiedel
Vera Schmiedel

promovierte in Meeresökologie, lebte auf einer kleinen Insel, begab sich dann auf Sinnsuche in craniosacraler Osteopathie, systemischer Aufstellungsarbeit, systemischer Naturtherapie und Stillness Touch, praktizierte bis 2018 in Hamburg. Jetzt ist sie begeisterte Malerin, Schmuckdesignerin und Ganzjahres - Schwimmerin an der Ostseeküste.




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.