Bodengrund


Bodengrund


Vor meinem Bürofenster arbeitet seit zwei Wochen ein Bagger. Genau genommen sind es zwei Bagger und zwei Menschen. Manchmal auch noch weitere Menschen, andere Maschinen und diverse Materialien. Unmittelbar nach dem Lob auf die Schwerkraft und in Zeiten, in denen meine Arbeit als Dozentin sich hauptsächlich in luftleeren Zoom-Sessions abspielt, schien mir das eine passende und willkommene Intervention der Umgebung. Erdbewegungen, Arbeit mit dem Boden, Umwälzung von Materie, Tiefbau und sorgsame Mühe dem Fundament. Der Zweck der Unternehmung sind die guten Wege der Wasser. Schön. Ich bin richtig begeistert, wie… ja wie? Wie ein kleines Kind, dem ein unerwartetes und doch lang ersehntes Geschenk gemacht wird. Interessant.
Nicht jede Baustelle in meiner unmittelbaren Nähe löst diese Begeisterung oder Betroffenheit aus. Ja, ich mag Maschinen, Männer und Motoren; aber ich finde auch, es wird zu viel gebaut, gebaggert und geteert. Und dann dieser Krach! Es rumpelt vor meinem Bildschirm. Etwa 50 cm trennen meinen Laptop und mich von der Baggerschaufel. Es fühlt sich irgendwie zärtlich an. Ich atme auf und frage mich, wie es wohl um die guten Wege meiner unterirdischen Wasser steht. Und woher diese Freude und Leichtigkeit kommt, wenn genau dieses Stück Welt vor und unter mir gerade mit schweren Maschinen bearbeitet wird?


Im sympoietischen Ansatz bietet Astrid Habiba Kreszmeier ein Modell von drei Welten an: Gegebene Natur, die Welt in und zwischen den Menschen sowie die Welt der (menschgemachten) Dinge. So ein Modell schafft Ordnung und eröffnet Möglichkeiten. Von wo aus schaue ich auf die Welt? Diese Frage hat mich persönlich und als Beraterin schon oftmals unterstützt? In letzter Zeit und mit erwähntem Modell hat diese Frage eine schöne Schwester bekommen. Welche Welten schauen auf mich? Womit bin ich in Kontakt? Der Bagger vor meinem Fenster dreht sich mir zu, ich lächle, mein Herz strahlt, er streckt seinen Arm aus und reicht eine Schaufel voll Erde an mir vorbei. Es tut mir gut.
Ich stelle mir vor, wie diese Baustelle die Erdschichten hier durcheinanderwirbelt. Wie Käfer, Würmer, Mikroben und Bakterien darauf und damit reagieren und wie der Vogel auf der anderen Seite des Baggers lächelt, wenn nicht er am Boden, sondern eben dieser an ihm vorbeifliegt. Auch der junge Fuchs mit seinem zotteligen Fell, der seit einigen Wochen täglich hier vorbei streunt hat wohl schon Wind von der Sache bekommen. Jenem Frühlingswind der Flugsamen und Pollen in die nun offene Erdkruste trägt. Und dann sind da noch die Mäuse mit ihren vielen Gängen und Raubzügen an Blumen, Obstbäume und Sträucher. Es heisst, sie haben es nicht gern, wenn die Erde vibriert, zum Beispiel weil Schafe oder Kühe darauf trampeln. Ein Bagger gegen die Mäuseplage? Es rumpelt unter mir.


Die Maschine stoppt und der Baggerfahrer klopft an mein Fenster. Er ist auf Fels gestossen, ein grosser Brocken direkt unter dem Haus, mitten in seinem Bau. Wenig später werden fünf Männer rund um diesen Felsen ins Gespräch vertieft sein. Dabei scheint es weniger um die Lösung eines Bauproblems zu gehen denn um Geschichten von Häusern, Tradition und Handwerk, verborgene Geschichten von Orten, Heimische Felsen und wie all dies Teil von Gemeinschaften ist. Es ist ein schönes Bild, der Bagger ruht im Hintergrund und ich erinnere mich an einen Satz von Bruno Latour den ich vor kurzem gelesen habe: "Ein Stein oder ein anderes Ding kann manchmal Objekt, manchmal soziales Band und manchmal Diskurs sein."[1]


In ein paar Tagen, vielleicht Wochen wird wieder Gras über die Sache und diesen Felsen gewachsen sein. In mir taucht der Begriff Heimat auf. Ich mochte das Wort eigentlich nie so richtig. Habe auch 43 Jahre und geschätzte 35 Umzüge lang versucht so zu tun, als hätte es keine Bedeutung für mich. Es fällt mir leicht mich niederzulassen und doch kenne ich die brennende Sehnsucht und üppige Traurigkeit nach tiefer Verwurzelung. Hat unsere Umgebung Interesse daran, dass wir uns beheimaten, dass wir uns zugehörig fühlen?
Gemäss Wikipedia[2] steht Heimat steht für die Gesamtheit der Lebensumstände, in denen ein Mensch aufwächst. Das nützt mir als biographischer Vagabundin nur wenig und erhellt auch nicht mein Bewegtsein von der Erdbearbeitung vor meiner Nase. Welches Aktanten-Netzwerk, welche artenübergreifenden Geschichten und welcher Dialog zwischen Menschen, gegebener Natur und Dingen schafft mir Heimat? In mir fliessen Bilder und Erinnerungen verschiedener Orte ineinander. Es sind Erfahrungen des Mitlebens. Es sind Erfahrungen von Nachbarschaften. Es sind Erfahrungen von Konstellationen. Die Bewegungen von Wassern spielen darin eine wiederkehrende Rolle. Ich denke an den Felsen unter mir, freue mich ihn zu kennen und von ihm wissen. Der Bagger startet wieder, dreht sich einmal im Kreis herum und greift nach einem neuen Werkzeug. Es tut mir gut.


[1] https://www.deutschlandfunk.de/vom-verhaeltnis-mensch-zu-ding.700.de.html?dram:article_id=84071


[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Heimat_%28Begriffskl%C3%A4rung%29


 


Sinha Weninger
Sinha Weninger

ist Systemische Naturtherapeutin, Dozentin für Sozialpädagogik und Mutter eines 5-jährigen Waldkindes. Sie schreibt im Natur-Dialog Magazin, pflegt die Kunst des feuermachens und zerbricht sich den Kopf über Gemeinwohl und Ökologie. Weitere Infos unter www.weninger.info




Astrid Habiba Kreszmeier
Astrid Habiba Kreszmeier

ist gerne Gastgeberin, auch hier in der Rubrik Wildes Weben. Sonst Begleiterin und Lehrtherapeutin in Systemischer Naturtherapie, Tiefenmythologie und Aufstellungsarbeit. Autorin, Gärtnerin und Aktivistin für Sympoietisches.
Wirkt und schreibt in nature&healing und seinem Journal für Erd- und Menschenverstand.