Sexualität

engl. sexuality, franz. sexualité f, von lat. sexus = »Geschlecht«. Charakteristisch für den modernen, erstmalig zu Beginn des 19. Jh. auftretenden Begriff »Sexualität« ist – in Kontrast zu traditionellen Begriffen der geschlechtlichen Lust bzw. Wollust – die Distanzierung von biologischer Reproduktion und vor allem das Konzept sexueller → Identität, das sich in der Annahme manifestiert, dass sexuelles Handeln, Begehren und Erleben Ausdruck sexueller Identität seien. Sexualität lässt sich mit Lautmann (2002, S. 24 f.) als eine »kommunikative Beziehung« definieren, »bei der Akteure Gefühle erleben, die eine genitale Lust zum Zentrum haben, ohne sich darauf zu beschränken«. → Systemtheoretisch kann Sexualität als → Kommunikation mit spezieller Referenz auf körperliche (→ Körper) Lust und unter Einbezug von Körpern konzipiert werden. Da Sexualität als Thema keinen Eingang in den Kanon der allgemeinen Soziologie gefunden hat, sondern – von wenigen Ausnahmen abgesehen – entweder weitgehend ignoriert oder angrenzenden Disziplinen überlassen wurde, stellt sich das → Forschungsfeld sehr heterogen dar. Die soziologische Erforschung des Sexuellen wird vielfach von Psychologen, Literatur- und → Kulturwissenschaftlerinnen, Medizinern sowie Philosophinnen ohne soziologische Ausbildung auf der einen und Soziologen und Soziologinnen ohne einschlägige sexualwissenschaftliche Kenntnisse auf der anderen Seite betrieben, sodass auch innerhalb der soziologischen Erforschung des Sexuellen keine Kanonbildung gelungen ist. Über »Systemtheorie und Sexualität« zu sprechen bedeutet vor allem, Forschungslücken zu thematisieren: Das verbreitete Desinteresse der soziologischen Theorie am Sexuellen schlägt sich auch in der Systemtheorie nieder, der freilich eine zusätzliche Erkenntnisblockade daraus erwächst, dass Niklas Luhmann (1982, 1997, S. 379 ff.) Sexualität als symbiotischen Mechanismus des »symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Liebe« konzipiert. Durch diese theoriearchitektonisch begründete Unterordnung des Sexuellen unter romantische → Liebe bei gleichzeitiger (exklusiver) → Kopplung von Sexualität an Liebe wird eine eigenständige Analyse des Sexuellen blockiert und der Blick auf den sexuellen Wandel und die Ausdifferenzierung der Sexualität verstellt.


Einige neuere Ansätze versuchen gleichwohl, das systemtheoretische Instrumentarium für eine Analyse der »Sexualität der Gesellschaft« (→ Gesellschaft) fruchtbar zu machen: So widmet sich Ahlemeyer (2000) empirisch der prostitutiven Intimkommunikation, und Lewandowski (2004) argumentiert, dass die moderne Gesellschaft ein Sexualitätssystem ausdifferenziert habe, während Fuchs (2010) den Versuch unternimmt, die luhmannsche Konzeption des Sexuellen zu modifizieren. Clement (2004) zielt darauf ab, die Sexualtherapie auf systemische Grundlagen umzustellen und argumentiert, dass Sexualität ein kommunikatives Geschehen und ein eigenständiger Bereich innerhalb einer → Paarbeziehung sei, die gemeinsame Sexualität eines Paares aber große Teile der Sexualitäten der beiden Partner »exkommuniziere« (2004). Da die systemtheoretisch angeleitete Analyse des Sexuellen noch am Anfang steht, sollen im Folgenden einige zentrale Kriterien skizziert werden, an denen eine systemtheoretische Konzeption des Sexuellen zu messen ist.


Um den soziosexuellen Wandel adäquat erfassen, auf den Ebenen von → Interaktion, → Organisation und → Gesellschaft analysieren und in Relation zur funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung setzen zu können, ist vor allem eine konzeptionelle Ablösung des Sexualitätsverständnisses von romantischer Liebe/Intimität erforderlich. Nur so können jene intimitätsfernen Sexualitätsformen – wie Prostitution, Pornografie und Selbstbefriedigung – erfasst werden, die den Wandel und die Autonomisierung (→ Autonomie) des Sexuellen vorantreiben. Sofern sich die Systemtheorie als Kommunikationstheorie versteht, muss sie in der Lage sein, Sexualität als Körperkommunikation und mithin Körperlichkeit als Kommunikationsmedium zu konzipieren. Eine Konzeption des Sexuellen, die nur Kommunikation über Sexualität, nicht aber Sexualität als Kommunikation fassen kann, verfehlt hingegen ihren Gegenstand. Eine solche Konzeption darf freilich nicht durch die Aufgabe des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs erkauft werden. Um aber Sexualität als Kommunikation bzw. kommunikatives Geschehen fassen zu können, ist ihre Herauslösung aus der Theoriestelle des symbiotischen Mechanismus des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums »Liebe« unverzichtbar. Die Systemtheorie wie die allgemeine Soziologie stehen zudem vor der Aufgabe, Sexualität und Geschlecht präzise zu unterscheiden, um so in den Blick zu bekommen, dass sich Sexualität und Geschlechterdifferenz in dem Sinne voneinander abgelöst haben, dass Heterosexualität nicht (mehr) als Modell des Sexuellen dienen kann. Grundlegend für jede soziologische Konzeption der Sexualität ist schließlich, dass menschliche Sexualität nicht anders denn als »sozial« gedacht werden kann: Vorstellungen von Sexualität ebenso wie konkretes sexuelles Handeln und Empfinden sind immer von gesellschaftlichen Sexualformen geprägt. Es gibt, mit anderen Worten, keine natürliche, vorgesellschaftliche menschliche Sexualität.


Eine zentrale Aufgabe für das systemische Arbeiten wie für die systemtheoretische Analyse besteht darin, der Versuchung zu widerstehen, Sexualität auf biologische oder psychische Prozesse oder andere, soziale Phänomene wie etwa »Liebe« zu reduzieren. Vielmehr ist die Ausdifferenzierung der Sexualität als eigenständiges soziales Phänomen ebenso zu berücksichtigen, wie die Tatsache, dass keine sexuellen Formen jenseits der Sexualität der Gesellschaft denkbar sind. U. a. bedeutet dies für die systemische Paartherapie sowohl, dass Sexualität eine eigenständige Dynamik sozialer → Beziehungen (→ Sozialsystem) darstellt, als auch, dass Sexualität nicht unabhängig von jener sozialen → Umwelt zu begreifen ist, die durch die Autonomisierung und die Umstellung der Sexualität der Gesellschaft auf einen Primat der sexuellen Lust charakterisiert ist.


Verwendete Literatur
Ahlemeyer, Heinrich W. (2000): Prostitutive Intimkommunikation. Zur Mikrosoziologie heterosexueller Prostitution. Gießen (Psychosozial).
Clement, Ulrich (2004): Systemische Sexualtherapie. Stuttgart (Klett-Cotta).
Fuchs, Peter (2010): Sexualität und Sozialität. Überlegungen zur Form moderner Sexualität. In: Thorsten Benkel u. Fehmi Akalin (Hrsg.): Soziale Dimensionen der Sexualität. Gießen (Psychosozial), S. 117–131.
Lautmann, Rüdiger (2002): Soziologie der Sexualität. Erotischer Körper, intimes Handeln und Sexualkultur. Weinheim/München ((Beltz Juventa).
Lewandowski, Sven (2004): Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung. Eine systemtheoretische Analyse. Bielefeld (Transcript).
Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).


Weiterführende Literatur
Benkel, Thorsten u. Fehmi Akalin (Hrsg.) (2010): Soziale Dimensionen der Sexualität. Gießen (Psychosozial).
Gagnon, John H. a. William Simon (1973): Sexual conduct. The social sources of human sexua­lity. New Brunswick/London (AldineTransactions), 2. ed. 2005.
Schmidt, Gunter (2004): Das neue DER DIE DAS. Über die Modernisierung des Sexuellen. ­Gießen (Psychosozial), 2., korr. Aufl. 2005.