Neu! Eia Asen, Michael Scholz: „Handbuch der Multifamilientherapie“
Die Pioniere der Multifamilientherapie (MFT) Eia Asen und Michael Scholz haben mit ihrem Buch „Praxis der Multifamilientherapie“ von 2012 viel für die Verbreitung dieses therapeutischen Ansatzes im deutschsprachigen Raum geleistet. Im September 2017 erscheint das von beiden herausgegebene neue „Handbuch der Multifamilientherapie“. Wir haben Michael Scholz gefragt, worin die besondere Wirksamkeit der simultanen Arbeit mit Familien in der Therapie besteht.

Michael Scholz: Chronische psychische Störungen und Erkrankungen führen sehr häufig zu einer Isolation der betroffenen Familien, weil diese sich dafür schämen. In der MFT werden sechs bis acht Familien mit den gleichen Schwierigkeiten, das ist der verbindende „gemeinsame Nenner“, in einer Gruppe behandelt. Dadurch wird ihr sozialer Rückzug aufgelöst. Bei guter Gruppenatmosphäre (Gruppenkohäsion) können sie sich leichter öffnen und den anderen anvertrauen. Sie erleben, dass sie nicht die einzigen mit diesem Problem sind.

Einzelfamilientherapie arbeitet mit den unterschiedlichen Sichtweisen der Mitglieder 
e i n e r Familie, was zu einem nachhaltigeren Therapieerfolg führt. In der MFT wird dieser Effekt durch die vielfältigen Perspektiven der Teilnehmer, die alle die gleichen Probleme haben, potenziert. MFT, wie wir sie verstehen und praktizieren, vermeidet weitestgehend Beratung und reduziert Psychoedukation deutlich. Sie hilft den Eltern – angeregt und ermutigt durch die vielfältigen unterschiedlichen Erfahrungen der Gruppe und von den Therapeuten moderiert – eigene, quasi maßgeschneiderte Strategien für ihren spezifischen Umgang mit ihrem Kind zu entwickeln. Sie können sich im Schonraum der Gruppe mit dem Kind praktisch erproben  und notfalls verändern. Nach anfänglich strukturierenden, den Familien angstnehmenden und sie verbindenden Interventionen ziehen sich die Therapeuten zurück und übergeben den Familien zunehmend die Verantwortung. Das unterstützt ihr Selbstvertrauen. Es fördert ihr Engagement, ihre Beschäftigung mit den Kindern und auch den Mut, andere Alternativen im Umgang mit ihrem Kind zu probieren. Untersuchungen haben gezeigt, dass mindestens die Hälfte aller Mütter anfangs an psychosozialen Problemen leiden. In einer Follow-up Studie nach ein bis anderthalb Jahren waren die früheren Auffälligkeiten der stark gestressten Mütter nicht mehr im behandlungsbedürftigen Bereich.

Carl-Auer: In den USA und Großbritannien wurden simultane Settings vor allem mit Familien mit psychotischen Angehörigen, z.B. mit schweren depressiven Erkrankungen oder bei Drogen- und Alkoholabhängigkeit, entwickelt und durchgeführt. Im deutschsprachigen Raum hat sich die MFT ganz neuen Bereichen geöffnet, so zum Beispiel der Jugendhilfe und der Schulpsychologie. Könnte man sagen, die MFT ist dem klinischen Bereich entwachsen und alltagstauglich geworden? 

Michael Scholz: Alltagstauglich ist etwas übertrieben. In Deutschland begann der eigentliche Aufschwung 2009 in Magdeburg mit dem ersten Treffen auf Initiative der Kinderpsychiatrie Uchtspringe von etwa 25 an der MFT interessierten Kinderpsychiatern und Jugendhilfe-Mitarbeitern, wovon nur wenige praktische Erfahrung mit der MFT hatten. Es wurde eine jährliche MFT Tagung beschlossen. Allmählich stieg auch das Interesse an Weiterbildungen und damit kam die rasante Ausbreitung der MFT in der Jugendhilfe und im klinischen Bereich, etwas später in der Pädagogik und jetzt auch in Kindertagesstätten in Gang. Inzwischen sind in einigen europäischen Ländern – so in Großbritannien, Deutschland, Dänemark, Holland – weitere Konzepte entwickelt und erprobt worden, angepasst an unterschiedlichste Problemfelder der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Jugendhilfe und dem Schulsystem. Erfreulicherweise werden zunehmend die Grenzen und manche Voreingenommenheiten zwischen Klinik, Jugendhilfe und Pädagogik überwunden.

Carl-Auer: Sie konnten für Ihr aktuelles Buch namhafte Vertreter der MFT gewinnen. Spiegelt das „Handbuch der Multifamilientherapie“ den State of the Art hinsichtlich der theoretischen und methodischen Praxis von MFT oder handelt es sich eher um einen Appell an die Forschungseinrichtungen und Institute, sich dem Thema MFT noch intensiver zuzuwenden?

Michael Scholz: Das Handbuch ist schon ein State of the Art in Hinblick auf die Theorie und neue praktische MFT-Felder. Es baut auf „Praxis der Multifamilientherapie“ auf. Gleichzeitig stellt es den Stand der internationalen und deutschen Forschung dar, auch mit dem Ziel, die vielen Ansätze in Deutschland zu bündeln, zu koordinieren und auf ein internationales Niveau zu bringen. Aussagekräftige Forschung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass künftig die MFT wissenschaftlich anerkannt und angemessen finanziert werden kann.

Carl-Auer: In Ihrem Vorwort erwähnen Sie, dass man in vielen MFT-Projekten tradierten Rollenverständnissen auf Seiten der Helfer begegnet. Worin liegt die besondere Chance der Verbindung von MFT mit einer systemischen Haltung bei Betreuern und Therapeuten? Hat die systemische „Herkunft“ einiger einflussreicher Therapeuten die enorme Ausweitung der Anwendungsfelder für MFT begünstigt?

Michael Scholz: Mit dem tradierten Rollenverständnis ist gemeint, dass wir abkommen von der tradierten, professionellen Beratungshaltung und den Eltern zwar als Profis, aber eher auf Augenhöhe dabei helfen, selbstständig eigene Lösungen mit Unterstützung der anderen Familien zu finden, im Schonraum der Gruppe zu üben und zu optimieren. Dieser Paradigmenwechsel ist ein wichtiger Wirkfaktor dafür, wie wir MFT verstehen, praktizieren und vermitteln. 

Die systemische Haltung namhafter Therapeuten hat mit Sicherheit zu ihrer Verbreitung beigetragen. Nicht zu unterschätzen ist aber auch das große Engagement der Multifamilientherapeuten, sei es durch Öffentlichkeitsarbeit, Publikationen, Vorträge und Workshops auf Tagungen und Kongressen oder durch die vielen MFT Weiterbildungsangebote. Dazu zählen auch die in der DGSF entwickelten Weiterbildungsrichtlinien, die zu einer von der DGSF zertifizierten Multifamilientherapie-Weiterbildung führen können. Zur Verbreitung in Deutschland haben mit Sicherheit auch die jährlichen MFT Tagungen beigetragen.

Wer eine MFT Weiterbildung absolviert und die ersten Kinderkrankheiten überstanden hat, merkt in der Arbeit, dass mit MFT vielen Familien geholfen werden kann, dass MFT von den meisten akzeptiert wird und Therapeuten und Familien trotz aller intensiven Arbeit damit auch Freude und Spaß haben können. Außerdem verkürzt  MFT die Behandlungsdauer und damit die Behandlungskosten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe. Das ist ein nicht unwesentlicher Faktor.

Carl-Auer:  Wer Ihr neues Buch in die Hand nimmt, hat es im wörtlichen Sinne mit einem Schwergewicht zu tun. Es ist nicht nur sehr umfangreich und randvoll mit methodisch-konzeptionellen Betrachtungen, Modellen aus unterschiedlichsten Praxisbezügen, Fallvignetten u.v.m. Welches Signal setzen Sie mit einem so umfassenden Werk innerhalb der MFT-Szene? Hat der Zeitpunkt seines Erscheinens auch eine politische Dimension? 

Michael Scholz: Ich glaube, das Handbuch ist ein wichtiger Meilenstein. Es ist  aber noch längst nicht das Ende der Fahnenstange. Wir wünschen uns, dass es viele anregen wird, sich die MFT anzueignen, weitere Praxisfelder zu erschließen und wissenschaftlich zu bearbeiten. So werden künftig auch verschiedene MFT Projekte für Flüchtlingsfamilien entstehen, die die kulturellen Besonderheiten berücksichtigen und die sprachlichen Barrieren auf verschiedensten Wegen überwinden werden. Auch in der theoretischen Differenzierung wird mit Sicherheit noch einiges zu erwarten sein. 

Carl-Auer: Wo sehen Sie die MFT in fünf Jahren? Wohin wird sie sich entwickeln? Welche neuen Anwendungsfelder zeichnen sich ab?

Michael Scholz: Die MFT hat sich in Deutschland vor allem mit Blick auf Kinder und Jugendliche entwickelt, nicht jedoch – wie seit langem international – im Erwachsenenbereich. Das wird sich ändern. MFT wird sich insgesamt auf den verschiedensten Gebieten weiter ausbreiten in allen Altersgruppen, auch im Kleinstkindes- und im Vorschulalter. Es wird sich eine intensive Zusammenarbeit der verschiedensten Institutionen entwickeln, damit notwendige langfristige kontinuierliche Betreuung  bedürftiger Familien angeboten werden kann. 

Auch müssen in fünf Jahren, vielleicht etwas später, in der Forschung international anerkannte Ergebnisse vorgelegt werden, damit die MFT ein wissenschaftlich anerkanntes Psychotherapieverfahren werden kann, um spätestens  dann von den Kostenträgern angemessen finanziert zu werden.

Herr Scholz, vielen Dank für dieses Gespräch!

Carl-Auer-Literaturhinweise: 
Eia Asen, Michael Scholz (Hrsg.): „Handbuch der Multifamilientherapie“ Jetzt vorbestellen!
Eia Asen, Michael Scholz (Hrsg.): „Praxis der Multifamilientherapie“