Gespräch mit Johannes Schwehm über sein neues Buch „Systemisch unterrichten“
„Systemische Pädagogik, so wie ich sie verstehe, versucht den Schatz des kommunikativ Wohltuenden im therapeutischen oder beraterischen Kontakt für den Unterrichtskontext zu heben.“ (Johannes Schwehm)

Carl-Auer Verlag: Lieber Herr Dr. Schwehm, Ihr neues Buch „Systemisch unterrichten – Fachunterricht prozessorientiert gestalten“ beginnt mit einer breit angelegten Herleitung verschiedener Ursprünge, wissenschaftlicher Koordinaten und Anwendungsfelder der systemischen Methode und Praxis, bevor Sie auf die systemische Pädagogik einschwenken. Ist diese ‚Tour de Force‘ durch die systemischen Felder für das Vor-Verständnis Ihres pädagogischen Ansatzes nötig? 

Dr. Johannes Schwehm: Nun ja, es kommt dabei natürlich auf die Vorkenntnisse des Lesers an. Kenner des systemischen Denkens werden bei der Lektüre meiner Auseinandersetzung mit der „Ursuppe“ vermutlich wenig Neues entdecken, außer vielleicht den Versuch auch hypnosystemische Ideen anschlussfähig an die systemische Pädagogik zu machen. Die „Tour de Force“ dient in erster Linie dem schulischen Praktiker als Einführung, der bislang noch keine oder wenige Berührungspunkte mit systemischen Ansätzen hatte. Das Vorstellen des systemischen Denkhorizontes liefert ihm eine Fundierung der praktischen Ideen, die im weiteren Verlauf entwickelt werden und soll darstellen, dass diese nicht einfach aus der Luft gegriffen sind. 

Carl-Auer Verlag: Es leuchtet in der Tat sehr ein, dass der von Ihnen angestrebte Theorie-Praxis-Transfer ohne fundierte theoretische Grundlagen wohl nicht erfolgen kann. Könnte man trotzdem Lehrkräfte, die oft Probleme mit der Ressource „Zeit“ haben, ermutigen, den ersten Teils Ihres Buches erst nach dem 3. Praxisteil zu lesen?

Dr. Johannes Schwehm: Ja, dies ist sicher ohne weiteres möglich. Ich denke, dass es im Grunde genommen zwei Möglichkeiten gibt, sich dem prozessorientierten Unterrichten zu nähern. Entweder der Chronologie des Bandes folgend, gewissermaßen klassisch-akademisch über die Theorie her kommend oder eben durch einen mutigen und neugierigen Sprung in die Praxis. Dann kann man die Lektüre direkt im dritten Teil beginnen. 

Dennoch würde ich insbesondere diejenigen Lehrkräfte, die bislang noch keinerlei Kontakt mit systemischen Denken hatten, nicht empfehlen, gänzlich auf den Theorieteil zu verzichten, da in diesem eine besondere Perspektive auf die soziale Situation „Unterricht“ entwickelt wird, deren Kenntnis helfen dürfte, die vorgeschlagenen Moderationsverfahren zur Entfaltung zu bringen. Als reine – voraussetzungslose – Tools sind diese nämlich nicht zu verstehen, auch wenn sie sich letztlich sehr einfach in den bestehenden Unterrichtsablauf integrieren lassen. Um das Potential der vorgeschlagenen Moderationsmethoden ausschöpfen zu können, bedarf es insofern einer gewissen Reflexion der eigenen Grundhaltung. 

Carl-Auer Verlag: In Ihrem Vorwort sagen Sie, es gehe darum, das Feld der systemischen Pädagogik um Moderationsverfahren „für ein systemischeres Gestalten von Unterrichtsprozessen“ anzureichern, die unterhalb der Theorieebene, aber oberhalb der Ebene der didaktischen Methodenlehre angesiedelt sind. Wären Sie einverstanden, wenn man diesen Zwischenraum als den zentralen Ort einer „systemisch pädagogischen Haltung“, die Moderationsverfahren aber als Reflexionsangebote zur Überprüfung eben dieser Haltung bezeichnen würde? 

Dr. Johannes Schwehm: Ja, das gefällt mir gut. Als Reflexionsangebote zur Überprüfung oder auch Gestaltung in der Praxis. Als Anregung, sich auf den Weg zu begeben, systemischer zu unterrichten. Die Moderationsverfahren sind daher auch nicht so zu verstehen, dass sie genaue Rezepte liefern wollen, sondern sie versuchen eine Idee zu konkretisieren, wie sich im Unterricht gesundheitsförderliche Prozesse initiieren lassen, bei denen Schüler Dinge lernen bzw. kompetenzorientiert gewendet, Fähigkeiten erlangen, die sie vorher noch nicht wussten oder hatten. Um es einmal stark herunter zu brechen: Systemische Pädagogik, so wie ich sie verstehe, versucht den Schatz des kommunikativ Wohltuenden im therapeutischen oder beraterischen Kontakt für den Unterrichtskontext zu heben. 

Carl-Auer Verlag: Bevor wir uns Ihren zwölf Moderationsverfahren im Detail zuwenden, möchte ich noch wissen, ob es zutreffend ist, dass Sie das Wort „Unterricht“ zu vermeiden scheinen und lieber von Pädagogik sprechen. Würden Sie sagen, dass im pädagogischen Kontext „Erziehen“, „Beraten“ und „Unterrichten“ das tägliche, zumeist  fachbezogene Doing meint, wohingegen Pädagogik in jener Zwischensphäre angesiedelt wäre, wo wir vorhin die systemische Haltung und die Moderationsverfahren als deren Reflexionsrahmen verortet hatten?

Dr. Johannes Schwehm: Wenn ich mich akademisch der Sache nähern würde, könnte eine solche Differenzierung möglicherweise hilfreich sein. Mein wesentliches Anliegen ist es allerdings, Wege aufzuzeigen, die es ermöglichen vor dem Hintergrund einer bestimmten Haltung, in der Praxis zielförderlich und situationsflexibel agieren zu können. Die Begriffe, die sie nennen, empfinde ich daher eher als Bereiche mit sehr weichen Grenzen. Zudem fehlt mir der Begriff der „Beziehungsgestaltung“, der wesentlich ist, um die Prozessebene des Geschehens zu erfassen. 

Carl-Auer Verlag: Sprechen wir nun über die zwölf Moderationsverfahren für ein systemischeres Unterrichten. Ihre Prämisse lautet, „dass Lernprozesse in einer Gruppe für alle Beteiligten desto befriedigender – und auch erfolgreicher – verlaufen, je intensiver das jeweilige Gefühl des inneren Kohärenzerlebens ist.“ Bitte schildern Sie uns an einem Beispiel , wie Ihre Moderationsverfahren in einem der Kernbereiche des schulischen Alltags „Unterricht planen und gestalten“,  „Gesprächskultur fördern“ und „Evaluieren und Bewerten“ so wirken können, das Lern-Ergebnisse befördert werden. Was zeichnet Ihre Moderationsverfahren aus? Auf welche Weise werden sie im schulischen Alltag wirksam? Wie lassen sich die Ergebnisse evaluieren? Wieso gehören Stichworte wie „Allparteilichkeit“ und „Problemneutralität“ in diesen Kontext? 

Dr. Johannes Schwehm: Die Moderationsverfahren zielen einerseits auf kognitive Aktivierung, Wissenserwerb und Kompetenzsteigerung (daher auch das Festhalten am Begriff „Unterricht“), andererseits aber auch auf sich beteiligen, einbringen und mitgestalten sowie die Förderung bzw. den Erhalt von Neugierde. Und zwar im Hinblick auf wie, was und wann gelernt wird, und nach welchen Kriterien die Lernenden beurteilt werden. I
Ich begreife den schulischen Kontext als eine besondere Herausforderung, um systemisches Denken zur Wirkung zu bringen. Ohne das hier genauer ausführen zu können, wirkt dieser Kontext an vielen Ecken und Enden restriktiv und limitierend. Ich versuche darzustellen, was dennoch unter einer systemischen Perspektive möglich ist. Und das ist ganz schön viel, wenn es auch nicht vergleichbar ist mit beispielsweise beraterischen Settings.
Eine konkrete Hinführung zu prozessorientiertem Unterrichten, wie ich es mit den Moderationsmethoden anstrebe, steht vor der Herausforderung, Hilfestellungen für ein situationsflexibles Steuern des Unterrichtsgeschehens geben zu wollen, bei denen die Lehrkraft in Kontakt mit den eigenen professionellen Bedürfnissen und denen der Schüler bleibt. Dabei geht es nicht um „Kuschelpädagogik“, denn zu den Bedürfnissen des Lehrers dürfte es im Normalfall gehören, erfolgreich und wirksam Unterricht zu arrangieren, aber eben auch einen „guten Draht“ zu den Mitgliedern seiner Lerngruppe zu pflegen und auch deren Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Hartmut Rosa beschreibt, denke ich, etwas ähnliches, wenn er vom Herstellen von „Resonanzachsen“ spricht. 

Carl-Auer Verlag: Abschließend eine vielleicht irritierende Frage: Welchen Rat würden sie einer Lehrkraft geben, die Ihr Buch als zu wenig praxisorientiert kritisiert, mehr Tools und Checklisten erwartet hätte und den theoretischen Einstieg zu anstrengend, zu zeitraubend und zu weit entfernt vom oft frustrierenden täglichen Unterrichten findet? Bietet Ihr Buch Lehrkräften nicht etwas weit wichtigeres, nämlich einen persönlichen Gewinn, ein stärkendes Element, um im Tagesgeschäft womöglich sogar besser bestehen zu können? Und schließlich: Nützen die Moderationsverfahren nicht auch jenseits des Schulbetriebs, nachdem – ggf. erst durch Ihr Buch – der Funke „systemische Haltung“ auf einen Leser übergesprungen ist?

Dr. Johannes Schwehm: Erst einmal muss ich gestehen, dass ich eine solche Kritik recht gut nachvollziehen könnte. Denn ich kenne das hier anklingende Verlangen nach schnellen Ratschlägen und Tipps aus meiner Tätigkeit in der Lehrerausbildung nur allzu gut. Insbesondere diejenigen Referendare, die gerade erst angefangen haben zu unterrichten, sehnen sich förmlich nach Rezepten, einfachen und vor allem funktionierenden Lösungen. 

Hilfesuchende dann allerdings vorschnell mit wohlmeinenden Ratschlägen zu überhäufen, halte ich nicht für besonders zweckmäßig, da diese weder das spezifische Erleben des Fragenden berücksichtigen, noch die konkrete Lerngruppe, in der die Schwierigkeiten aufgetreten sind bzw. was sich zwischen Lerngruppe und Lehrperson als Beziehungsgeschehen ereignet. So ist doch die Erfahrung unter Lehrern Legion, dass eine Lerngruppe sich etwa im Deutschunterricht ganz anders zeigt, als eine Stunde später in Mathematik. Andersherum kann es sein, dass dieselbe Stundenplanung in der 9a hervorragend funktioniert und bei der 9b im selben Fach kaum fruchtet. 

Kurz: Allgemeine Regeln und Ratschläge sind wenig kontextsensitiv und hinterlassen oft das Gefühl, nicht richtig verstanden worden zu sein, da sie als nicht wirklich passend oder zwiespältig erlebt werden. Der Ansatz, den ich vertrete, fußt letztlich darauf, diese Überforderung auszuhalten und sich kontinuierlich mit sich selbst - und auch den Schülern - in Aushandlungsprozesse zu begeben. Was brauche ich, was braucht ihr, wie können wir dies gemeinsam erreichen? Dabei auch zu wissen, was ich als Lehrkraft nicht zur Disposition stellen kann oder möchte. Dies ist insofern eine große Herausforderung, da ich mich nicht nur auf die Suche nach eigener innerer Klarheit begeben muss, sondern auch die entsprechenden kommunikativen Fähigkeiten entwickeln muss, um - vor dem Hintergrund der institutionellen Anforderungen - angstfreie Räume zu eröffnen für Begegnung, Sinnerleben und Beteiligung. Wenn ich hierfür ein intuitives Gespür entwickele, lassen sich didaktische und methodische Entscheidungen viel zweckentsprechender – zugunsten erfolgreichen Lernens - treffen. 
Dies ist das eine. Das andere ist, dass die Moderationsverfahren, die sämtlich einen Ablaufplan und ein Praxisbeispiel enthalten, meiner Meinung nach hinreichend konkret gefasst sind, um sie vergleichsweise umstandslos in die eigene Unterrichtstätigkeit zu übernehmen.

Herr Schwehm, vielen Dank für dieses schöne Schlußwort und das ausführliche Gespräch!

Carl-Auer-Literaturtipp: 
Johannes Schwehm: „Systemisch unterrichten – Fachunterricht prozessorientiert gestalten“