Late Night Hamlet: ein Befreiungsschlag

Ein großes beleuchtetes H dominiert die linke Bühnenhälfte. Rechts befindet sich ein Tisch, hinter dem ein Late-Night-Talker in seiner TV-Show thronen könnte. Souverän, ein wenig erhöht sitzend spielte er dann mit seinem Publikum. Dieses, so erinnere ich mich an einige der Late Night Shows im Fernsehen, lauscht prustend vor Lachen, gebannt den wortgewaltigen und treffsicheren Nadelstichen des Talkers. Dieser arrangiert derweil die Fäden seiner oftmals sarkastisch (wirkenden) Bösartigkeiten, die vom Publikum erwartungsfroh nicht nur goutiert, sondern geradezu leidenschaftlich aufgesogen werden. Ist man doch gerade wegen dieser sozialen und zwischenmenschlichen Obszönitäten gekommen. Das Publikum merkt dabei kaum, dass es sich selbst zur Marionette gewandelt, nicht nur blamiert, sondern sich selbst beim Versuch der bildungsbeflissenen Selbstoptimierung bloßgestellt hat.


Das, was früher noch als Infotainment salonfähig war, trägt inzwischen Züge von Fremdschämen, von einer peinlich wirkenden, obszönen Selbstoffenbarung. Zurück zu Hamlet in Recklinghausen. Die Umrisse einer Menschengestalt, mittig auf dem Bühnenboden unübersehbar mit dickem Kreidestrich platziert, erinnert derweil an einen sonntäglich ausgestrahlten Krimi. Diese Gestalt hat was Ruhiges, was Unspektakuläres, etwas, das unsichtbar (denn es ist ja kein Mensch, sondern nur ein Umriss) an die Wiederholung von vergangenem Leben und dem Momentum des Todes erinnert. Durch das Ende des sonntäglichen Krimis gewöhnt (verwöhnt?), genießen die Menschen beim Anblick dieses Kreidekörpers voller Spannung, aber auch in vertrauensvoller Gewissheit, die Wiederholung der Aufklärung. Der Tote bleibt tot. Die Kommissare haben sich oftmals mühsam zusammengerauft und abgemüht, um den Täter zu finden. Und die Zuschauer fallen erleichtert ins Bett. Ist der Täter (manchmal ist es auch eine Täterin) letztendlich doch erwischt worden. Wen wundert`s. Hübner war lange als Kommissar Bukow einer dieser vom Publikum geliebten Kommissare. Am Sonntag drauf….na ja, …..das Publikum wähnt sich fiebernd bereits im neuen Krimi. Neuer Krimi? Wieder ein Krimi? Ein langweiliger Krimi? Ein außerordentlich spannender Krimi? Oder ein weiterer suchender Schritt im unendlichen Raum der persönlichen Sinnfindung. Oder wieder ein Hamlet. Ein neuer Hamlet. - Hübners Hamlet.


Hamlet ist allgegenwärtig


Es geht um Hamlet, heißt es vollmundig in der Ankündigung der Aufführung. Wieder einmal muss Hamlet für die Sinnfindung der Menschen herhalten. Viele Jahrhunderte schon. Viele pubertierenden Schülergenrationen haben ihn inzwischen genießen dürfen. Die Pubertät ist eine Zeit, in der Jugendliche ihre Identität und ihren Platz in der Welt suchen. Hamlets Fragen nach seinem eigenen Wesen, seine Selbstzweifel und seine Suche nach dem Sinn des Lebens spiegeln diese Suche nach Identität wider. Schüler können sich in Hamlets inneren Konflikten und seiner Selbstreflexion wiedererkennen. Junge Menschen tragen ihren eigenen Hamlet bereits in sich, ohne zu wissen, dass dieser so heißt, ohne je ein Theater betreten zu haben oder überhaupt um die historische Shakespeare-Figur zu wissen. Pubertät ist Identitätssuche voller emotionaler Turbulenzen und Zerrissenheit. Hamlets Misstrauen und seine Herausforderung der bestehenden Machtstrukturen können mit den Rebellionen und dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit vieler Jugendlicher verglichen werden. Ähnlich wie Hamlet erleben Jugendliche in der Pubertät Einsamkeit, Isolation und Nicht-Verstanden-werden. Sie stellen sich oft existenzielle Fragen und suchen nach dem Sinn ihres Lebens. Hamlets berühmter Monolog „Sein oder Nichtsein“ reflektiert diese Art von philosophischen Überlegungen, die auch viele Schüler in dieser Lebensphase beschäftigen. Warum, so frage ich mich, sehe ich nur so wenige Jugendliche im Zuschauerraum? Hübner verinnerlichte offensichtlich Jahre zuvor Hamlet wie einer dieser Jugendlichen. Hübner bat Hamlet damals um Orientierung im Leben, lud ihn gar ein sein Begleiter zu werden. Hübner übt sich, zusammen mit seinem Begleiter, in der Revolte der Distinktion. Ganz im Unterschied zur Contenance, die von Selbstdisziplin, emotionaler Selbstbeherrschung und Gefasstheit lebt. Ganz im Unterschied zur bürgerlichen, durch Eltern vorgelebte Contenance.


Wie viele Jugendliche in der Pubertät grenzt er sich ab von dieser Art der bildungsbürgerlichen Pflege der eigenen Raison und der hierdurch gespeisten Erziehungsrituale. Nicht nur das, er begehrt auf, impulsiv, erratisch, irrational und voller Wucht. Er, ähnlich wie Hamlet, begehrt in der Suche nach dem eigenen Vater gegen denselben auf.


Dank seines gewaltigen Stimmvolumens wandelt sich der Theaterraum zu einem Resonanzraum, der die Zuschauer unmittelbar gebannt ergreift und aus der Bequemlichkeit des Beobachters rausreißt. Er (Hübner) würde solch einen „nackten“ Moment lieben. Ohne um Hamlet zu wissen tauchen viele Jugendliche durch Hard-Rock- und Heavy-Metal-Musik ergriffen ein in die mystische Welt eines Hamlet. So ist z. B. der Song von Iron Maiden „Revelations“ stark durch Hamlets Grübeln über Leben und Tod inspiriert. „The Ghost of Perdition“ der schwedischen Metalband Opeth schließlich reißt die Zuhörer mit in die mystische Welt der inneren, tiefen Zerrissenheit eines Hamlets. Diese ist der pubertären Zerrissenheit in vielerlei Hinsicht doch so ähnlich.


Auch wenn eine solche Musik auf der Triennale in Recklinghausen nicht zu vernehmen war, so verkörperte der Hauptprotagonist, „Charly“ Hübner, doch die wortgewaltige Expressionskraft, die unbändige Wildheit die stimmliche Wucht und tobende Zerrissenheit eines Hamlets, seines Heavy-Mettal-Hamlets. Nämlich die des Hamlets, den er seit seiner Jugend seinen ständigen Begleiter und sinnstiftenden Einflüsterer nennt. Hamlet, so Hübner, habe ihn doch erst zum Theater geführt. Nun scheint er auf der Bühne in Recklinghausen außer sich zu sein, bis an die maximale Grenze der Selbstoffenbarung zu gehen. Sein rosa Hemd klebt derweil an seinem Körper. Seine Stimme erfüllt den ganzen Theaterraum. Hübner braucht kein Headset. Hübner braucht sich selbst. Hübner ist er selbst. Völlig erschöpft, sich nicht mehr in irgendeiner Rolle versteckend, füllt er kathartisch den auf der Bühne geöffneten Raum.


Hamlet ist ein bildungsbürgerliches Surrogat


Hamlet fungiert (e) als pädagogischer Hilfslehrer, als Surrogat, um die Jugend schrittweise aus ihrer pubertären wirren Zerrissenheit hinauszuführen. Gleichzeitig sollte sie sich in einem neuen Umgang in der Beziehung zur Welt üben, ohne am Leistungsdruck zu scheitern oder vor Erwartungsangst zu verzagen. Die Pubertät ist eine Zeit, in der Jugendliche ihre Identität und ihren Platz in der Welt suchen. Hamlets Fragen nach seinem eigenen Wesen, seine Selbstzweifel und seine Suche nach dem Sinn des Lebens spiegeln diese Suche nach Identität wider. Schüler können sich in Hamlets inneren Konflikten und seiner Selbstreflexion wiedererkennen. Als wäre es gestern, so erinnere ich mich an meine Abiturprüfung in Deutsch, die nun schon eine Anzahl an Jahrzehnten hinter mir liegt. Hamlet ist immer noch einer der ganz Großen in der Weltliteratur, der als Favorit für die Erstellung von Abituraufsätzen stets erfolgreich herhalten muss. Sollte er (Hamlet) doch die (spätpubertäre) Jugend, wie mich damals auch, im tiefsten Innern so ansprechen, dass man sich emotional abgeholt und persönlich betroffen erlebt. Durch das Abfassen der Klassenarbeit sollte sich die Jugend dann durch Hamlet (zumindest im Klassenzimmer) persönlich befreien. Die gute Note des Lehrers war dann der erhoffte Befreiungsschlag. Hamlet ist kein bildungsbürgerlicher Hilfslehrer. Am vergangenen Wochenende erlebte ich bei der Aufführung von „Late Night Hamlet“ die Faszination, die von der so unkonventionell vorgelebten Figur der großen europäischen Literatur ausgeht. Es ging um Literatur. Es ging um nicht zu enträtselnde Geheimnisse und die vielschichtige Verwobenheit menschlicher Existenz. Es ging um die von Shakespeare initiierte Selbsterfahrung, die seit Jahrhunderten die Literatur, das Feuilleton und das Bildungsbürgertum wachrütteln sollte. Und es ging um die Abnabelung Hübners von der eigenen Suche nach dem Vater.


Hamlet ist bei den diesjährigen Ruhrfestspielen in Recklinghausen nicht (nur) Hamlet, sondern Hamlet ist Hübner und Hübner ist Hamlet. Hier fängt es schon an im Hamletschen Sinne vielschichtig und mehrdeutig zu werden. Das große beleuchtete H links auf der Bühne suggeriert eine mögliche Zwillingsbruderschaft zwischen Hamlet und Hübner. Wer ist wer oder sind beide wer? Hübner sagt nach der Vorstellung im Gespräch mit dem Publikum, selbst, er sei ein Narr. Wer und wie ist ein Narr? Hübner (als Hübner und als Hamlet) spiegelt dem Publikum mit „…mein Leid ist euer Glück“, dass er doch nur ein Spiegel, eine Projektionsfläche für das sei, was das Bildungsbürgertum sich von ihm wünscht. Das Publikum braucht Hamlet. Braucht es Hübner? – Im anschließenden Publikumsgespräch bedauert Hübner, dass Menschen ihn beim Spaziergang mit seinem Hund, oft nur auf seinen Hund hin ansprechen würden. Genauso wie sie ihn als Kommissar Buckow lieben würden. - Hübner leidet, wie er selbst sagt. Hübner will nicht (nur) Kommissar oder Hundehalter sein. Hübner ahnt, wie es sich anfühlen würde, zu scheitern. Auch Hamlet kennt dies Gefühl. Scheitern zu fühlen heißt für Hübner in Recklinghausen: er selbst und nicht (mehr nur) der Erfüllungsgehilfe der Publikumserwartungen zu sein. Es verwundert daher nicht, dass er die Beschäftigung mit Hamlet als persönliche Befreiung erlebt. Als eine lustvolle Selbst-Befreiung aus dem Gefängnis der Hermetik konventioneller Selbstbeschränkung und Erfüllung allgegenwärtiger Zuschreibungen. Im Publikumsgespräch lädt er durch seinen Charme die Menschen rin, auch mal das Wagnis der Selbst-Befreiung auszuprobieren. Hübner ist jetzt ein ganz anderer Hamlet. Ein sich selbst befreiender Hamlet. Hier liegt eine große Chance des Hübnerschen Hamlet. Hamlet ist inzwischen wie die Bibel als Erzählung auserzählt, so der Intendant Olaf Kröck. Ist Hübners Hamletsche Selbst-Befreiung ein Fingerzeig auf das Neue? Ein Fingerzeig auf einen „neuen“ Hamlet?


Hübner ist nicht Hamlet – Hamlet ist Hübner


Hübner spiegelt dem Auditorium seine eigene Gewaltigkeit, seine Befreiung aus der Enge der Zuschreibungen des Publikums. Hübner ist Carsten Johannes Marcus „Charly“ Hübner, Ehemann, Heavy-Metal-Fan Er liebt leidenschaftlich Fußball, ist deutscher Schauspieler, erfolgreicher Autor und Regisseur. Er gilt als prominent, ist aber nicht unbedingt mein oder Ihr Nachbar, mit dem man, ohne gefragt zu haben, einfach so ein Bier trinken sollte. Das Stück wird bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen gespielt