Zugfahrers Tagessätze

Wieder einmal sitze ich im Zug und werde vom Geist von Goethe und Schiller umfleucht, denn gerade fahre ich in den Bahnhof von Weimar ein. Weimar find ich toll, die Stadt ist so schön übersichtlich, und die Bratwürste sind dort auch sehr schmackhaft. Ein Besuch lohnt sich also.


Aber nun: Darf man eigentlich, intellektuell geschult, wie wir alle sind, Goethe oder Schiller oder gar beide nicht mögen und sagen: „Mein Gott, sind die langweilig. Eine Sprache von gestern“. Darf man dies sagen, zumal vor dem Hintergrund, dass mancher Literaturpapst fraglos von einem Begeisterungstaumel in den anderen fällt, wenn die ersten Buchstaben jener Namen nur anklingen: Schi …“, „Go …“, ohne überhaupt zu wissen, ob aus „Schi“ in der Fortsetzung nicht „Schillum“ wird und aus „Go“ nicht „Gollum“. Wiewohl die natürliche Fortsetzung den Literaturkenner wie von selbst das „-ler“ und „-ethe“ ergänzen ließe und andere Fortsetzungen sich von vornherein verböten oder einem gar nicht in den Sinn kämen.


Offenbarte man sich – und wir merken schon, es geht hier nicht um ein Geringes, sondern gleichsam um des Pudels Kern – offenbarte man sich also nicht als Kunstbanause, der hochgeistige Welten zu verstehen sich nicht imstande zeigt, wenn statt dessen als Endsilbe das „-lum“ einem auf den Lippen läge?


Schon juckt es mich in den Fingern, einen Rechtfertigungssatz einzufügen: Auch ich hätte natürlich wie alle Literaturkenner die bekannten Endsilben unserer deutschen Autorengötter ergänzt, eine andere Möglichkeit wäre bestenfalls in zweiter, dritter Folge mir eingefallen, wenn überhaupt. Und ich finde diese beiden Dichter ganz toll; doppelt mit - sozusagen - Erquickung fühle ich mich gefüllt, wenn ich Zeilen jener unsterblichen Autoren inhaliere: Die Inhalation solcher Zeilenwelten führt nie zur Langeweile, sondern allein ein süßer Friede - um mal zeitgemäße Worte zu wählen -, der die Brust ausfüllt, ist die Folge. EHRLICH (mit drei Ausrufezeichen dahinter: !!!).


Dabei setze ich mich theatralisch in Szene, um dem Ganzen mehr Gewicht zu verleihen, wie auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Hier auf dieser Bühne, die mir das Feld sein soll, will ich für mich selber stehen (und kein anderer für mich) und soll das Herz mir gewogen werden. Wohlauf, so könnte ich sprechen: Aber ich oute mich hier selbstredend nicht, weder in dem einen noch in dem anderen Sinne und spreche diese zur Anschaulichkeit nur rein hypothetisch formulierten Rechtfertigungssätze in Wirklichkeit nicht aus.

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Was meinen Sie denn?: Mag ich nun Goethe oder Schiller? Sie wissen ja, ich bin und bleibe für Sie eine BLACK BOX, auf ewiglich undurchsichtig:opak; --- sozusagen trotz meiner hier in aller Öffentlichkeit verkündeteten Worte - paradox gesprochen - "ein heilig öffentlich Geheimnis".

Und ist es eigentlich möglich, aus dieser meiner Rede ein mir genehmes Verständnis abzuleiten, wenn Luhmann recht hat, dass das Missverständnis der Normalfall aller Kommunikation sei? (Woher wusste Luhmann eigentlich davon, wo er doch Teil dieses Systems war und keinen privilegierten Blick hatte aus einem Orbit, jenseits aller Kommunikation. Kann es sein - nur eine Hypothese -, dass wir uns im Grunde meistens prima verstehen und das Missverständnis allein nur hegen, dass das je Verstandene missverstanden sei?)

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Abschließend: Verzeihen Sie meine Neugierde, aber ich möchte wissen, ob ich die Welt (darunter mach ich's nicht) noch verstehe: Mögen Sie eigentlich Goethe oder Schiller? Und wenn ich gerade beim neugierigen Fragen bin: Wann haben Sie eigentlich ihren letzten Goethe oder Schiller – selbstredend mit Genuss – gelesen, (wenn Sie nicht gerade Deutschlehrer sind?)