Zu Menschenbild und Ich in der systemischen Theorie

####Einleitung####


Jede Theorie – vor allem jede, die praktisch wird, und da ganz besonders etwa jede zur Psychotherapie – muß sich Fragen zu ihrem Menschenbild stellen.


Liest man Schriften zur systemischen Therapie*praxis*, so erlebt man das Objekt der Therapie – den Menschen ... als „Patienten“, als „Klienten“, als „Kunden“ ... – als ein Individuum, dem Respekt und Empathie und Wertschätzung entgegengebracht werden, das in seiner jeweiligen Einmaligkeit und Besonderheit gewürdigt wird, das (speziell in der ressourcenorientierten Therapievariante) als Experte für sein Schicksal gilt und das, verkürzt gesagt, nur genügend Anregung und Stimulation brauche, damit es die ihm gemäße Art, ein würdiges Leben zu leben, erspüre und verwirkliche. Das klingt gut, es klingt sogar schön – und wenn es so ist, will ich es auch gar nicht schmälern.


Die Frage ist, wie sich dieses Bild mit der Theorie vertrüge. Ich will zu einigen Problemen kurz etwas sagen.


#### 1. Problem: Das Affirmative jeder Psychotherapie####


Jede Psychotherapie muß sich mit dem Vorwurf der Bestätigung und Zementierung der gesellschaftlichen Verhältnisse herumschlagen, die systemische Psychotherapie aber in noch schärferem Maße als andere. Dadurch, daß sie Umwelten des „Patienten“ (ich nehme jetzt einmal dieses Wort, möchte es aber neutral verstanden wissen im Hinblick sowohl auf Wertung als auch auf Geschlechter) so weit als möglich einbezieht, also über das Indididuum hinauszielt in die Gesellschaft hinein, nimmt sie ihm Fluchtmöglichkeiten, die eine nichtsystemische Therapie immerhin (zumindest zunächst) noch offenläßt. Der systemisch therapierte Patient sieht sich von vornherein zurückgeschoben in das System Familie, dem er vielleicht entfliehen möchte (oder gar müßte, um „gesunden“ zu können), oder in das System Schule oder oder oder.


Jede unsystemische Therapie hat die Freiheit, zum Patienten zu sagen: Du mußt schauen, daß du in *diesem Leben* irgendwie zurechtkommst, ohne dir und anderen zu schaden (was auch immer „schaden“ jetzt hieße). Die systemische Therapie ist von vornherein eingeengt (das ist ja eben das Systemische an ihr) und sagt: Du mußt schauen, wie du in *dieser Gesellschaft*, in diesem Stadtteil, in deiner Firma, in deiner Familie usw. zurechtkommst. Natürlich kann sie im Einzelfall zu dem Schluß kommen: Es ist besser, wenn du deine Familie verläßt. Aber wohlgemerkt, nur ganz praktisch: diese deine Familie, nicht denkmöglich: das System Familie an sich. Usw. Das Moment der Affirmation des Bestehenden ist in die systemische Therapie nicht nur als wenn auch möglicherweise unverzichtbares Beiwerk eingeschrieben, sondern fungiert als tragender Pfeiler.


Systemische Therapie ist noch mehr als andere Therapien in der Gefahr, das gesellschaftlich Seiende als unverrückbar gegeben hinzunehmen und ihre „Patienten“ als Abweichungen von der Norm zu betrachten, die es nur wieder „einzugliedern“ gelte (insofern ist sie dann doch eine Defizittheorie, siehe unten). Das Problem mag sich in der Alltagspraxis in dieser Schärfe so nicht stellen. Aber ich rede ja von der Theorie.


####2. Problem: Die Grenzen des Systemischen####


Das Systemische kommt manchmal etwas keck daher. Kein Wunder bei einer fundamentalen Entdeckung wie der des Systemischen, die auch noch praktisch fruchtbar wird und ihre Erfolge ein wenig feiern möchte – und ja auch darf. Aber in die Theorie zurück.


Das Systemische hat eigentlich keine Grenzen, weder nach innen (das Innere des Individuums betreffend) noch nach außen (die Umwelten des Individuums betreffend).


Nach außen: Wenn Schüler X gravierende „Probleme“ mit der Schule hat, dann wird das Sytem Schule in irgendeiner Weise in die Therapie mit hereingenommen. Aber was will das heißen? Es ist ja niemals „das System Schule“, es ist immer höchstens ein Subsystem des Subsubsubsystems Grundschule im Vorort Mannheim-Sowieso. Das System Schule wird durch die Therapie des Schülers X nicht im mindestens angekratzt. Es bleibt, wie es ist (es sei denn, es gäbe gleichzeitig in ganz vielen Mannheim-Sowiesos ganz viele Schüler X mit ganz vielen systemischen Therapeuten und einsichtigen Eltern und lernwilligen Lehrern und Rektoren und ...; dann hätten wir vielleicht den Beginn eines schulsystemischen Paradigmenwechsels, eine Revolte von unten).


Was ich sagen will: Die Verwendung des Wortes „systemisch“ verleitet dazu zu glauben, es handle sich bei dem, worum es geht, tatsächlich um Systeme. Es handelt sich aber nur um ganz kleine unbedeutende Elemente ganz großer bedeutender Systeme, die da gemeint sein können. Natürlich ist die Familie Y in irgendeinem Sinne ein System (und es ist gut, daß sie in die Therapie des Patienten X einbezogen wird) – aber das eigentliche System Familie ist woanders, meinetwegen tief im „kollektiven Unbewußten“, obwohl mir diese Redeweise nicht gefällt, jedenfalls weit draußen und eigentlich zunächst unerreichbar im Gesellschaftlichen. Und an die eigentlichen – äußeren – Systeme reicht die systemische Therapie nicht heran. (Schön, wenn sich sagen ließe: noch nicht.) Also könnte ich formulieren: Die Grenzen der systemischen Theorie verlaufen spätestens ungefähr da, wo die relevanten Systeme erst anfangen zu beginnen.


Nach innen (ich weiß, vorsichtiger: ich nehme an, daß die systemische Theorie ursprünglich wohl nicht so gemeint war, aber sie ist nun mal nach innen erweitert worden): Das Individuum läßt sich in beliebig viele Subsysteme aufteilen, je nach Theorie so oder so. Die systemische Theorie hat dazu bislang unter anderem die Begriffe gefunden: „Ego-States“, „Teilearbeit“ (vgl. dazu J. G. Watkins und H. H. Watkins: Ego-States – Theorie und Therapie, Carl-Auer 2003; P. U. Hesse: Teilearbeit: Konzepte von Multiplizität in ausgewählten Bereichen moderner Psychtherapie, Carl-Auer 2003).


Das Individuum läßt sich atomisieren, subatomisieren, quarkisieren – möglicherweise ad infinitum. (Mich beschleicht manchmal das Gefühl: Wenn die systemische Theorie das Individuum immer weiter und weiter subsystemisiert, landet sie irgendwann bei vorvorvorletzten Knotenpunkten, auf denen tausend kleine lachende Sigmund Freuds erst herumhüpfen und dann einladend zum [Hecht?-]Sprung in die weitere Tiefe ansetzen.)


Somit ist die systemische Grenze nach innen immer das Gefilde des Grenzenlosen. Vielleicht kann man sich das mechanistisch-fraktal vorstellen: Jede „innere Stimme“ (um mal diesen Ausdruck zu gebrauchen) setzt sich aus weiteren Unterstimmen zusammen, diese wiederum aus weiteren und so fort. So daß jedes innere Stimmengewirr ein Gewirr aus inneren Stimmengewirren darstellt, und man weiß nie, von wo der lauteste Schrei (oder Gesang) herrührt, von wie weit „unten“ ...


Ich will nicht abschweifen. Das Systemische hat nach innen, sage ich, keine Grenzen. Bevor ich jetzt darüber spekuliere, was die Abwesenheit von Grenzen logisch, ontologisch und psychologisch bedeuten mag, nur noch soviel: Wo keine klaren Grenzen zu ziehen sind, kann man eigentlich auch nicht mehr von „systemisch“ reden, also: von der Einbeziehung von (Sub-)Systemen. Man kann vielleicht sagen: Wirf das Netz aus, und schau, daß du was Relevantes einfängst, von welchen Sub...systemen auch immer. Usw.


Die Atomisierung des Individuums führt zu einem dritten Problem.


####3. Problem: Das Ich####


Nur wenige Bemerkungen.


Spätestens mit der Ausweitung des Systemischen ins Individuum hinein („spätestens“ deswegen, weil es viele Zugänge zu diesem Problem geben mag, gibt) steht die systemsiche Theorie vor einer Frage, an der schon einmal die (soziologische) Rollentheorie stand, ohne sie beantworten zu können. Man muß mit Frigga Haug (Kritik der Rollentheorie und ihrer Anwendung in der bürgerlichen deutschen Soziologie, Fischer Taschenbuch Verlag 1972) nicht insgesamt einverstanden sein, kann aber doch mit ihr die entscheidende Frage stellen: Was bleibt vom Menschen, wenn man all seine Rollen von ihm abzieht?


Was also bleibt vom Menschen als Individuum, wenn man es atomisiert, zergliedert, zerlegt in seine (gesetzt, wir hätten sie) Einzelbestandteile? Die Frage trifft inzwischen interessanterweise auf den empirischen Befund, daß, wenn etwa eine Entscheidung ansteht, bestimmte meiner Hirnareale offensichtlich vor mir „wissen“, wie „ich“ „mich“ entscheiden werde – es mir dann immerhin gerade noch so rechtzeitig mitteilen, daß ich die Folgen „meiner“ Entscheidung als von mir verursacht erleben kann.)


Zum Problembereich paßt auch, daß die systemische Therapie (zumindest die sogenannte ressourcenorientierte) in dem an sich begrüßenswerten Bestreben, den Patienten keine Defizite in Form von negativen (Charakter-)„Eigenschaften“ anzuheften, überhaupt nicht mehr mit dem Begriff der individuellen Eigenschaften operiert, sondern sich auf Strukturen verlegt; sehr klar nachzulesen etwa bei W. Palmowski (Was können die Begriffe „systemisch“ und „konstruktivistisch“ für Beratungsprozesse bedeuten? In: R. Balgo und H. Lindemann [Hrsg.]: Theorie und Praxis systemischer Pädagogik, Carl-Auer 2006): Am Ende – so radikal formuliert es Palmowski nicht; und meint es sicher auch nicht so? – läuft alles darauf hinaus, daß das Individuum mit seinen individuellen Eigenschaften zurücktritt hinter seine Funktion als Schaltstelle im System. Das hat zunächst etwas Bestechendes, sogar Befreiendes bei der Betrachtung zwischenmenschlicher Konflikte, Palmowski bringt dazu sehr anschauliche und plausible, ja, wie ich finde: überzeugende Beispiele.


Aber wenn ich die Konsequenzen zu Ende denke, stehe ich vor der Abschaffung des Individuums – etwa derart, wie sie Luhmann zu betreiben scheint: Die Gesellschaft besteht nicht aus Menschen, sondern aus Subsystemen, aus *Kommunikationen*, die miteinander kommunizieren – ganz ohne Menschen. In anderer (oder ähnlicher?) Weise scheint mir Kant das Individuum aus der Welt vertrieben zu haben (siehe auch meinen Kommentar zum Kommentar von Max Liebscht zu meinem Beitrag „Kant und Konstruktivismus“): indem er beispielsweise den Verstand des individuellen Menschen eingetauscht hat gegen den Verstand des überindividuellen Gesamtmenschen.


Ich will dem nicht widersprechen (etwa vor Schreck), glaube allerdings, daß man (daß ich!) darüber noch viel nachdenken muß. Denn mein *Gefühl* bei alledem ist ein sehr unbehagliches. Was aber – gegebenenfalls – nichts heißen will.


####Zurück zur Praxis####


Noch einmal: Was ich sage, soll nicht die Praxis desavouieren. Von dort lese ich viel Ermutigendes. Wie weit sich eine Praxis von ihrer Ursprungstheorie entkoppeln kann oder gar muß oder schließlich ihre eigene Theorie gebiert – das ist wiederum eine andere Frage.