Zielorientierung

Wie oft bei Diskussionen mit Leuten aus dem Management großer deutscher Konzerne, die sich ein wenig mit Theorie beschäftigt haben, landeten wir in unserer Besprechung gestern Abend bei der Systemtheorie und ihren vermeintlichen Beschränkungen. Sie sei zwar gut, um irgendwelche Zusammenhänge deskriptiv zu erfassen, aber nicht gut, um zielorientiert zu handeln. Schließlich sei es laut Systemtheorie ja beliebig, was man tue, da die Zukunft nicht vorhersehbar und die Wirkung der eigenen Handlungen nicht kalkulierbar sei.


Und wie immer bei solchen Gelegenheiten, habe ich gelitten wie ein Hund. Denn das ist natürlich Quatsch.


Auch wenn die Wirkung meiner Handlungen nicht 100% kalkulierbar ist, weil ich z.B. irgendwelche gleichzeitigen Ereignisse in ihrer Wirkung nicht vorhergesehen habe, ist es nicht beliebig, was ich tue. Zum einen kann ich ziemlich genau vorhersagen, was mich auf keinen Fall meinem Ziel näher bringt (was den Entscheidungsraum schon erheblich einengt) und zum anderen kann ich – und dazu brauche ich eine konsistente Theorie – durchaus begründete Vorhersagen machen, wenn ich möglichst viele (alle werde ich kaum erwischen) relevanten Faktoren und die Mechanismen ihrer Wechselbeziehungen in meine Kalkulation, mein Szenario, meine Prognose usw. einbeziehe. Das wird dann zwar komplexer, als er mir lieb sein mag, aber die Komplexität lässt sich in der Regel soweit reduzieren, dass Entscheidungen möglich werden. Ich kann (eigene oder fremde) Erfahrungen auswerten, Risiken einschätzen usw. All dies ermöglicht mir, meine Entscheidungen mehr oder weniger gut begründet zu treffen.


Allerdings: Auch damit kann ich nur die Wahrscheinlichkeit, mein Ziel zu erreichen, erhöhen, Sicherheit habe ich auch dann nicht. Doch diese Wahrscheinlichkeit ist ja auch nicht zu verachten. Schließlich kommen wir so alle morgens aus dem Bett, an unseren Arbeitsplatz, zu Verabredungen usw. Die Welt insgesamt ist nicht berechenbar – und Menschen wie auch soziale Systeme erst recht nicht –, aber das ist ja nicht wirklich ein Problem, da sie sich so verhalten, als ob sie berechenbar wären (d.h. sie verzichten meist darauf, ihren tatsächlichen Freiraum auszuschöpfen).


Was nun die Steuerung solch unberechenbarer („nicht-trivialer“) Systeme angeht, so ist man darauf angewiesen, möglichst passende Modelle (Hypothesen) ihrer internen Dynamik zu entwickeln. Wer einen anderen Menschen gut versteht, der kann sich auch zielorientiert verhalten und z.B. vermeiden, ihn zu kränken, ihn fördern bei der Entfaltung seiner Talente, seine Ziele mit den eigenen koordinieren usw. Und wer die Mechanismen sozialer System kennt und weiss, dass er durch seine Teilnahme deren Realität mit gestaltet, kann das eine tun, und das andere lassen, weil/wenn er sich deren (vermutlicher) Wirkung bewusst ist...


Man braucht halt ein anderes Steuerungskonzept, das eher mit der Veränderung von Kontextbedingungen arbeitet statt mit geradlinigem Determinismus.


Das Putzige ist ja, dass all die, die beklagen, Systemtheorie liefere nicht genügend Tools zur Steuerung von Unternehmen, Organisationen etc. (was aus meiner Sicht nicht stimmt), jeden Tag bei der Anwendung der Tools, die versprechen, alles „in den Griff“ zu bekommen, ihr eigenes Scheitern erleben. Allerdings rechnen sie dieses Scheitern meist nicht diesen Tools oder deren schwachsinnigen (unterkomplexen) Vorannahmen zu, sondern irgendwelchen höheren Mächten oder sich und ihrer Inkompetenz, die Tools richtig anzuwenden. Inkompetenz stimmt dabei ja schon, aber nicht in Bezug auf die Tools, sondern auf das Verständnis komplexer Systeme...


Um das Ganze in eine Metapher zu kleiden: Auch beim Segeln kann man nicht den Wind und die Strömungen bestimmen, aber man kann sehr wohl einen Kurs steuern, der ans Ziel führt. Kein Mensch, der bei Sinnen ist, käme auf die Idee zu behaupten, es sei beliebig, was man als Segler tut, nur weil Wind und Wetter nicht wirklich zuverlässig vorhersehbar sind.