Zeit, Raum, Phänomenologie, Grammatik

Geburtstag des Vaters. Der Neunundsiebzigste. Also Jahrgang 1927. Meine Frau und ich waren dort zum Nachmittags-Kaffee. Und natürlich einige Verwandte und der Familie nahestehende Menschen. Die älteste, unsere Nenn-Tante Kätsche, ist bereits 90, Geburtsjahr 1915. Sie führte nach dem Tod meiner Großmutter väterlicherseits (1954), die ich nie kennenlernte, meinem Großvater den Haushalt. Eigentlich müßte sie die Nenn-Oma sein.


Mir wurde bei den Gesprächen am Tisch wieder bewußt, wie wichtig mir Jahreszahlen sind. Vielleicht liegt es auch daran, daß wir in der ersten Stunde des Geschichtsunterrichts der Oberstufe (1976) eine Liste mit 70 Daten bekamen, die wir innerhalb einer Woche auswendig zu lernen hatten: sieben fünf drei, drei drei drei, die Krönung Karls des Großen, Der Fall Konstantinopels, Die Flucht nach Mekka, und so weiter. Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir ein großes Familientreffen in einem Meckenheimer Weingut, dem sogenannten Stammhaus der "väterlichen Linie" der Familie. Austausch von Erinnerungen, mündlich, fotografisch, Texte, Gesichter, Gangarten.


Die Orientierungsleistung der Konstrukte Jahre, Monate, Jahreszeiten, Jahresgruppen, Jahrhunderte etc. hatte schon vorher große Bedeutung für mich gewonnen. (1966 ist Wembley, Geoffrey Hurst, der weinende Siggi Held, um nur ein Beispiel zu nennen. Gerade haben sich die Spieler der beiden Nationalteams des WM-Endspiels von damals wieder getroffen). In jedem Fall ermöglichen diese Konstrukte, eigene Entwicklungen und größere Zusammenhänge, seien sie vergangen, seien sie antizipiert, einzuordnen und überhaupt erst anzuschauen - natürlich ohne Anspruch auf so etwas wie Wahrheit oder letzte Gültigkeit. Auch hier kann ich nicht anders als vorläufig denken (siehe Beitrag vom Montag).


Dies ist einer der wichtigen Kontexte phänomenologischen und grammatischen Denkens. Wenn man so will: in der im Konstrukt Zeit aufgespannten und kartographierten Geographie schippern das Bewußtsein und sein(e) Beobachter durch Wahrnehmungs-Ozeane, wandern, trekken oder fahren durch Empfindungs-Landschaft. Nur so erhalten alle Begriffe des zeitlichen und räumlichen Zeigraumes wie "damals", "dann", "jetzt", "hier", "vorher", "zu dieser Zeit", "irgendwann", "später", "nie" wirkliche Bedeutung und man kann Sinn mit ihnen machen. Edmund Husserls Beschreibungen der intentionalen Struktur des Bewußtseins als Bewußtsein-von setzen hier an. Eine andere Metapher: Das Wahrnehmungs- und Beurteilungslabor hat nun seine Einrichtung und Instrumente. Ihre abstrakte Form erhält Konkretion; Leben - das eigene und die ihm so zugeordneten - werden erzählbar, und die Zuordnungen des eigenen Lebens in Erzählungen Anderer werden erlebbar, verstehbar - und verhandelbar i.S.v. veränderbar. Jean-Paul Sartres "schönes" Bild: Der Andere stiehlt mir die Welt, meine Welt fließt gleichsam in seine hinein ab. Bis wir uns begegnen und kommunizieren, uns gegenseitig Einlaß in unsere jeweiligen Laboratorien gewähren.


Genau von hier aus erschließt sich für mich auch eine Verbindung zu den Ideen des Konstruktivismus als interner Instrumentalismus, was soviel heißt wie: erst durch die Instrumente wird möglich, was ohne sie gar nicht zu denken ist (im Gegensatz zum externen Instrumentalismus, der davon ausgeht, daß Instrumente ihren Funktionen nachgeordnet sind; was für den alltäglichen Begriff des Werkzeugs ja stimmt, aber eben ein schiefes Bild gibt, wenn man diese Idee gedankenlos mitnimmt, um mit ihrer Hilfe solche "Grundfragen" anzugehen. Einige Kritiken des Konstruktivismus in der Richtung "Konstruieren was ich WILL", Beliebigkeit o.ä. verlieren ihren Angriffspunkt, wenn man sich den internen Instrumentalismus klarmacht). Beobachtung wird beobachtbar. Hier liegt m.E. auch eine Stärke der Autopoiese-Idee: Wer mit der Prozeß-Beschreibung anfängt, für den ist die Idee des Statischen immer sekundär und erhält erst von dorther ihren Sinn und ihre eigene - nicht-statische - Stärke. Womit wir bei Wittgensteins Verwendung des Grammatik-Begriffes landen: "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache." Auf die Ebene des Verbs heruntergezogen: Wie wir es in der Sprache gebrauchen. Und nicht vorher. Das Vorher hat hier gar keinen Sinn. Und noch ein Begriff schließt sich hier an: Kontingenz.


Auf Konsequenzen für die derzeit hochgehandelten Theorien der Neurobiologie will ich nicht eingehen hier. Man wird ja auch müde irgendwann. Morgen vielleicht. Jedenfalls sind Fingerbewegungen - das Paradebeispiel der Untersuchungsszenarien für den Angriff auf den freien Willen - was anderes als Umzugs- oder Hochzeitspläne und halt mit dem Hirn-Forscher-Instrumentarium um einiges leichter zu untersuchen. Weshalb ich beim Autofahren ab jetzt immer einen Helm tragen sollte, um nicht im Falle eines Falles solchen Instrumenten ausgesetzt zu sein. Außer zum Reparieren. Hier finge schon wieder so viel an, Fingerzeige auf Fingerzeige ...


Ein Witz zum Abschluß: Ein Hirn untersucht ein anderes und kommt zu dem Schluß: wenn ich du wäre, würde ich mich nicht ernst nehmen.