Wunsch und Wirklichkeit

Diese Liste ist fantastisch, lieber Dirk:


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„Für eine perfekte Verständigung sind also hohe Fähigkeiten gefordert:


* Klarheit ueber die eigenen aktuelle Motivation und die Zielsetzung

* Interesse am Austausch mit dem konkreten Gegenüber (persönlich und inhaltlich)

* Bewusste Wahrnehmung der mimischen, emotionalen und rationalen Ausdrücke des Gegenübers

* Korrekte Interpretation dieser Ausdrücke im gemeinsamen Bedeutungsrahmen, was eine Erfahrung und Sicherheit bzgl. dieses Bedeutungsrahmens einschliesst.

* Flexibilität, also die Fähigkeit die aktuelle Bedeutung (Interpretation) kontinuierlich der Gesprächssituation anzupassen (also nicht in Annahmen hängen zu bleiben)

* Möglichst bewusste Wahl und Steuerung der eigenen mimischen, emotionalen und sprachlichen Ausdrücke im Sinne der aktuellen Bedeutung und Zielrichtung

* und nicht zuletzt ein gleiches Fähigkeuitsniveau bei den Beteiligten."


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Der Liste möchte ich eine andere gegenüber stellen:

Eine Liste der impliziten Prämissen (oder Selbstverständlichkeiten) in vielen Gruppendiskussionen und deren Auswirkungen. Sie ist genau keine Wunschliste sondern Ergebnis von Beobachtung an vielen Diskussionen in Gruppen. Die Charakteristika der Gruppe sind:


- Erwachsene meist mittleren Alters (ca. 35 – 55, auch einzelne ältere und jüngere)

- hochqualifiziert aber bunt gemischte Berufe

- Männer und Frauen relativ ausgeglichen

- tendenziell gruppendiskussionserfahren


Nun die (meist impliziten) Prämissen für Gruppendiskussionen, auf denen sich die Dynamik abspielt, und deren sichtbare Auswirkungen:


- Jeder darf und soll sich auf seine ganz persönliche Art in die Diskussion einbringen.

- Jede hat dabei die gleichen (Rede-) Rechte und darf sprechen, wenn er niemanden bös unterbricht.

- Jeder ist frei in Inhalt und Art der Meinungsäußerung, solange er niemanden persönlich verletzt.

- Störungen haben Vorrang, d.h., es wird begrüßt, wenn jemand offen und vorsichtig anspricht, dass z.B. ein Tonfall nicht würdigend war.

- Die vorherrschende Orientierung der Beteiligten in der Diskussion ist: Was fällt MIR zu dem Thema ein, was kann ICH dazu sagen?

- Deshalb beziehen sich die Aufgaben der Moderation besonders darauf, die Rechte der Diskussionspartner zu schützen, also darauf, die Freiheit, Individualität und Spontaneität der Personen zu befördern und höchstens Einschränkungen durch andere zu stoppen.

- Die Moderation achtet darauf, dass alle, die möchten, zu Wort kommen, gerechterweise nach der Reihenfolge der Meldung.

- Manchmal ist es aber schwierig, sich starr an die Redereihenfolge zu halten, da manchen Diskussionspartnern ganz spontan zu einem gerade gehörten Redebeitrag etwas Wichtiges einfällt, was nur jetzt passt.

- Schwierigkeiten bekommt die Moderation bei der Zeiteinhaltung insgesamt, bei besonders langer Redezeit Einzelner und beim Abdriften vom Thema, da Eingriffe der Moderation fast immer mit Einschränkungen von Personen verbunden sind: Die ganze Gruppe oder eine einzelne Personen müssen gestoppt oder unterbrochen werden, von ihrem derzeitigen Thema abgebracht werden, um zum ursprünglichen Thema zurück zu kehren. Diese Eingriffe sind schwer mit den freien Persönlichkeitsrechten zu vereinbaren.


Fazit: Was als sachliche, z.B. Entscheidungsdiskussion geplant war und vielleicht auch so angefangen hat, kann am Ende eine Varieté-Show ähnliche Aneinanderreihung verschiedener Soloauftritte und wechselseitiger Verstimmung über falsche Tonfälle und Unterbrechungen werden ;-) (entschuldigt meine Übertreibung) .

Es gibt kaum einen roten Faden, die Beiträge orientieren oder messen sich selten konstruktiv an anderen Beiträgen und am Ziel der Diskussion. Sie bauen wenig aufeinander auf, sondern stehen nebeneinander. Am Ende ist das Diskussionsziel nicht erreicht, die Zeit überschritten und die meisten fanden der Verlauf mühsam bis quälend.


Jetzt der Vergleich zur ersten Liste über die perfekte Verständigung:


Der Hauptunterschied ist wohl, dass die Personen in den Gruppen


- mehr mit sich selbst beschäftigt sind und

- weniger mit den vielen Gegenübers


Sie reden


- eher assoziativ selbst darstellend und

- weniger bewusst selbst beobachtend und selbst steuernd.


Wenn sie auf den Prozess achten, dann eher darauf, dass


- niemand übergangen, verletzt, unterbrochen also irgendwie als Person missachtet wird und

- weniger, inwieweit jeder versucht, zum inhaltlichen Gelingen der Diskussion beizutragen


Sie achten bei sich selbst


- mehr darauf, ob sie denn auch von den anderen wahrgenommen und gewürdigt werden, ob sie genügend zu Wort kommen und

- weniger auf Verständlichkeit und Anknüpfbarkeit für andere.


Sie sind alles in allem "begrenzter" und schaffen es viel weniger das ernst zu nehmen, was sie wahrnehmen (könnten). Es scheint nicht so wichtig zu sein, ob die Diskussion ein gutes Ergebnis erzielt. Wichtiger scheint ein Wohlgefühl zu sein, welches durch Raum und Gehör für die eigenen Äußerungen entsteht. Und hier ist eine Paradoxie: sie verlangen etwas von den anderen, was sie selbst nicht geben. Sie wollen Gehör, aber nicht hören. Wenn das alle (oder auch nur genügend in der Gruppe) wollen, passiert es leicht, dass am Ende niemand so recht zufrieden ist, weil niemand richtig gehört und verstanden wird.


Der perfekte Verständiger kann sowohl sich selbst, als auch die anderen, als auch den Ergebnisfortschritt beobachten und seine Aktionen darauf hin ausrichten.


Wie schön ist es, perfekte Verständiger diskutieren zu sehen. Sie beobachten einander und hören einander genau zu. Jeder prüft (vor dem Sprechen) seinen Beitrag, inwieweit er auf dem eingeschlagenen Weg anknüpft, vorher Gesagtes konstruktiv weiterführt oder aus einer Sackgasse heraus führt. Das Ziel, ein gemeinsames Diskussionsziel zu erreichen, steht an erster Stelle. Da jeder sich für das GANZE zuständig fühlt, entsteht keine Verstimmung oder Missachtung.....


Interessanterweise ist das tatsächlich oft beobachtete Muster relativ schwer zu beeinflussen. Es reicht auch, wenn in der Gruppe nur ein Teil der Leute auf dieses Muster einschwingt. Hier scheint mir eine weit verbreitete Kultur am Werk zu sein. Ein echter Atrraktor.


Eine Moderation, kann natürlich versuchen, dagegen zu steuern. Selbst wenn vorher Diskussionsregeln vereinbart wurden und die Gruppe zugestimmt hat, dass man sich ganz auf das Ziel und die weiterbringenden Beitrage konzentrieren möchte, dass man auf längliche Narrationen verzichtet und die Dinge auf den Punkt bringt, kann es schief gehen: Wenn die Moderation Stringenz oder Disziplin einfordert - und sogar ein paar Mitstreiter unter den Teilnehmern findet – riskiert sie, die Gruppe zu spalten. Zumindest gibt es viel Ärger.


Wie gesagt, ich vermute ein verbreitetes, kulturelles Muster und parallel dazu auch entsprechend verbreitete Kompetenzen. Im Stil der „perfekten Verständiger“ zu diskutieren erfordert höhere Kompetenzen. Da kann man vereinbaren, was man will, die Leute kommen einfach an ihre Grenze. Besser zu diskutieren erfordert echtes Lernen, nicht bloß einen Entscheidung jetzt mal anders zu diskutieren.