Worte

Jemand wurde gerade „siebzig Jahre jung“, stand auf der Lokalseite unserer Zeitung. Es gibt „junge Alte“, die fit und aktiv sind, durch den Wald rennen und durch die ganze Welt reisen. Je älter die Menschen im Schnitt werden, desto weniger Alte scheint es zu geben. Nur wegen der Renten ist das ein Problem. Zu teuer sind sie, die Alten. Jeder will alt werden, keiner will alt sein. Alte sind deshalb keine Alten mehr, sondern Senioren. Klingt nicht so alt, und wenn es auch dasselbe bedeutet. Deshalb leben sie auch nicht mehr in Altenheimen, sondern in Seniorenresidenzen. Das Lexikon verrät: Eine Residenz ist der Sitz eines Staatsoberhauptes, eines Fürsten oder hohen geistlichen Würdenträgers. Bezogen auf ein Haus, in dem hilfsbedürftige alte Menschen zwischen betreutem Wohnen und Intensivpflege ihr Dasein fristen, ist es eine Konstruktion jenseits der Wirklichkeit, also reine Schönfärberei. Der Hang zum Euphemismus ist typisch für unsere Zeit. Da wird sogar der Müll entsorgt und nicht weggeworfen. Was im Gelben Sack gesammelt wird, sind Wertstoffe. Gut, da lass ich mir das noch gefallen. Manches soll tatsächlich wieder verwendet werden, ist also noch etwas wert, wenn auch nicht für den, der es wegschmeißt. Aber wenn Beschäftigte nicht mehr entlassen, sondern freigesetzt werden, ist das Heuchelei mit Methode. Wer sind wohl die Konstrukteure, welche die Macht haben, den Menschen neue Worte zu geben? Wie entstehen solche Begriffe und (auch so ein Wort) Sprachregelungen? Schon dieses Wort besagt es ja ziemlich genau. Es steckt die Regel drin. Regelungswut ist wohl der Antrieb für diejenigen, die den Menschen bis in die Begriffsprägung hinein Vorschriften machen wollen, an die diese sich dann gefälligst zu halten haben. Da aber die Verpackung heute eine gewichtige Rolle spielt, müssen auch Regelungen schön verpackt werden, um leichter angenommen zu werden. Glücklicherweise verschwinden viele dieser Alltags-Sprachprodukte irgend wann wieder aus dem allgemeinen Bewusstsein. Schilder mit dem Wort Zuwiderhandlungen und der Androhung “werden bestraft” zum Beispiel habe ich schon länger nicht mehr gesehen, waren früher häufig, um Leute vom Betreten des Rasens und dergleichen strafwürdigen Handlungen abzuhalten.


Ein beliebter Trick bei der Formulierung unangenehmer Sachverhalte ist heute die Bildung von Akronymen. Arbeitslosengeld zum Beispiel ist viel zu lang. So viel Zeit hat man nicht, dieses Wort jedes Mal neu zu sagen: Fünf Silben, mit I unf II dahinter gar sechs! Daher heißt es in der Fachsprache heute einfach ALG. Und da gibt es ALG I und ALG II. Rein bürokratische Konstrukte. Zwei Silben jeweils. Unsinnlich, distanziert, dem unangenehmen Sinn entrückt. Was es bedeutet, merkt man erst, wenn es zur eigenen Existenz gehört. Sonst ist es weit weg: Polit- und Fachjargon. In der Medizin hat es sich längst als praktisch erwiesen, mit Akronymen zu arbeiten. MS, ALS, CT. Das kennt heute schon fast jeder. Dem Namen nach. Und wer sich mit der menschlichen Lernfähigkeit beschäftigt, der weiß, was fMRT ist. Nie gehört? Die funktionale Magnetresonanztomographie ist der apparativ gesteuerte Blick von außen ins arbeitende Gehirn. Akronyme sind praktisch, nicht nur weil sie kurz sind, sondern weil sie erst entschlüsselt werden müssen, um sie zu verstehen. Nur Aids sieht man das Akronym nicht mehr an. In der Medizin gibt es die zweite Methode, neue Dinge zu benennen. Beim Wort Alzheimer denkt niemand an einen früheren Arzt namens Alzheimer, sondern zuerst an die Krankheit, die den Namen ihres Entdeckers erhalten hat. Und das Verb röntgen ist noch weiter losgelöst vom Entdeckernamen der gefährlichen Strahlen. Statt Euphemismen zu bilden, die den wahren Sinn verschleiern, kann man ihn auch hinter Kunstformen verstecken. Nebenwirkung des Hanges zur Vereinfachung: Verharmlosung.


Ach ja, und dann das Denglisch! Silver Generation nennt man da jetzt die Alten. Wer sich an Karl May erinnert, denkt unwillkürlich an Häuptling Silberlocke, aber das war ja ein Alphatierchen (gell Frau von den Leyen), und da sei jetzt Gender Mainstream vor! Wer’s nicht rafft, rufe an bei seinem Call Center für alle offenen Fragen. Was für ein Event ist der Alltag unter solchen Klängen doch geworden! Da macht doch der Ruhestand echt Spaß. A propos Ruhestand. Das Wort ist schon älteren Ursprungs und doch sehr bezeichnend, ein früher Fall von Schönreden. Manche, die von innerer Unruhe getrieben durch denselben eilen, wähnen sich gar im Unruhestand, von wegen der verbreiteten unruhigen Beine (noch so ein Euphemismus) und der unbezwingbaren Reiselust, den Ehrenämtern und was es da sonst noch gibt. Aber die Welt der Alten ist vielschichtig! So soll es ein paar echte Ruheständler geben, die das Wort nicht nur wörtlich nehmen, sondern schon rechtzeitig, so um die 50 völlig verinnerlicht haben, schon damals voll vorbereitet, viel später mal alles hinter sich zu haben. Sie sollen sich echt mit dem Kunstwort identifizieren und wundern sich, wenn sie dann wirklich zwanzig Jahre später nicht mehr aus dem Sessel hochkommen oder nicht einmal mehr begreifen, dass zwei mal zwei wirklich vier sein soll.


Warnung vor solchen Missverständnissen, kann ich nur sagen! Helmut Schmitt sagte einmal bei Beckmann zwischen bedeutenden Zügen an seiner Mentholzigarette: Man muss weiter machen. Immer weiter machen. Alles andere sei ungesund. Oder so ähnlich. Er macht ja weiter. Er meinte übrigens nicht die Zigaretten. Das zwar auch. Er meinte Gehirn und Geist, die sich am besten in Funktion halten lassen, indem ihr Besitzer sie fordert. Als Mitherausgeber der Zeit hat er dafür noch immer sein Büro im Pressehaus. Dieses Privileg haben nur wenige. Einige wenige andere aber haben einen Blog wie ich, für den sie für eine Woche frei geschaltet werden. Auch ein Privileg. Dem Carl-Auer-Verlag sei Dank, dass er nicht vor den Inhabern des Ruhestandes zurückschreckt. Drum: Blogge, wem ein Blog gegeben! Bloggen ist ein Spaß für’s Leben! Dank auch jenen, die kommentarlos hier reingeschaut haben, auch wenn sich der Blogger über noch mehr Resonanz freuen würde. Er weiß ja um die Beliebigkeit der Internetreisen und um die Arbeitsbelastung der aktiv im Berufsleben Stehenden, die es ja wahrlich nicht leicht haben und deshalb solche kleinen Mühen scheuen müssen.


So verabschiede ich mich denn mit diesem Beitrag von meiner Kehrwoche und nehme wieder im virtuellen Lesesaal Platz. Ab und zu vielleicht wieder einen Kommentar einwerfend, wenn mir danach ist. Ich versichere aber allen Kehrbesenschwingerinnen und -schwingern der nächsten Zeit, dass sie stets mit meinem aufmerksamen Blick auf ihre Werke rechnen können, auch wenn ich es zumeist so machen werde wie sie selbst bisher auch: Stillvergnügt lesen und sich an den Inspirationen der jeweiligen Blogger(innen) freuen.


In diesem Sinne grüße ich alle Leserinnen und Leser und ganz besonders die Kommentatoren meiner Beiträge, Horst Kasper