Woodstock revisited

Gestern Abend lud ich meinen 15-jährigen Sohn, der sich ein wenig zu langweilen schien, ein, mit mir gemeinsam den Woodstock-Film auf DVD zu schauen, ohne dabei recht darauf zu achten, dass der Abend schon recht fortgeschritten war. Wir saßen dann einträchtig und aus ganz unterschiedlichen Gründen fasziniert bis um 1.30 h in der Frühe vor dem Fernseher. Als das Festival 1969 stattfand, war ich nur unwesentlich älter als mein Sohn und stand wie er vor der dringlichen Frage, an welcher Szene ich mich orientieren sollte. Die Revolte 1968 hatte ich knapp verpasst und auch wenn ich mich im Winter 69/70 rapide politisch radikalisieren sollte, spielte die Rock-Revolution für mich doch eine mindestens ebenso wesentliche Rolle (ich wurde aus diesem Grund leider auch nicht zu einer Kapitalschulung des Schülerkomitees der KPD/AO zugelassen, weil ich beim Aufnahmetest naiverweise angab, nach dem Abitur nach Indien reisen anstatt Flugblätter vor deutschen Werkstoren verteilen zu wollen - weshalb ich in der Folge meine Kapitalschulung selbst in die Hand nehmen musste). Woodstock war jedenfalls mein Ding - nicht nur der Musik wegen, sondern weil es den definitiven Beweis lieferte, dass Love, Peace & Happiness auch unter Mangel an Lebensmitteln, Toiletten und anderen Hygieneartikeln für Hunderttausende tagelang ohne Probleme funktionierte, und dass alle Erwachsenen, die das in Zweifel zogen, völlig auf dem Holzweg waren.


Natürlich konnte ich nicht persönlich dabei sein und blieb das erste Jahr auf Erzählungen und Musikausschnitte angewiesen. Als der Film 1970 in die Kinos kam, war ich total berauscht. Ich weiß nicht, ob es überhaupt zuvor Musikfilme in dieser Art gegeben hat, ich kannte jedenfalls keine. Eine Zeitlang bereiste ich dann auch in Deutschland diverse Musikfestivals, die alle mehr oder weniger prächtig waren, und hatte auch das Vergnügen, im Mai 1972 auf dem zunächst verbotenen Germersheimer Rockfestival Pink Floyd und andere britische Bands im strömenden Regen gemeinsam mit 70.000 Anderen in einer riesigen Schlammlache hungrig und versifft zu verbringen - die Stimmung war aber schon nicht mehr ganz so entspannt wie im Film. Irgendwie war mir das dann auf die Dauer doch zu unbequem und ich ließ die Sache mit den Festivals zunehmend bleiben.


1975 bereiste ich in meiner Studentenzeit mit einem Freund u.a. die griechischen Inseln und ich erinnere mich, auf Ikaria, einer weitgehend touristenfreien Insel in der Nähe von Samos in einem kleinen Freilichtkino den Film wiedergesehen zu haben, projiziert auf eine grob gemauerte und geweißte Wand, über der man in die Berge und den Himmel schauen konnte. Über die Mauer ins Bild hinein hing neben den Weinranken auch eine kleine Blechdose an einem Kabel, die sich als der Lautsprecher des Kinos herausstellte. Auch mussten ständig die Filmrollen ausgewechselt werden, was bei einer Länge von 184 Minuten nicht verwunderte. Diese zweite Seherfahrung war also schon alleine aufgrund der beschränkten technischen Einrichtungen mit etwas mehr Distanz verbunden, dennoch war die Verschmelzung des Filmerlebnisses mit dem atemraubenden romantischen Freilicht-Ambiente drumherum ein eigenes Erlebnis, das ich nicht mehr vergessen habe.


Erst Mitte der 90er Jahre stolperte ich wieder über den Film. Ich lang mit einer ziemlich starken Grippe und einem noch stärkeren Blues im Bett und zappte mich durchs Fernsehprogramm, schaltete auf Arte um und fand mich plötzlich mitten in Woodstock wieder, und zwar diesmal im Director‘s Cut (228 Min.). Meine vorherrschenden Gefühle waren dabei Nostalgie und Rührung. Natürlich stellte ich auch fest, dass ich nicht mehr wirklich dazugehörte - innerlich wie äußerlich. Aber auch, dass es eine völlig andere Geschichte ist, nicht dazuzugehören, wenn man mal im tiefsten Inneren dazugehört hat, als überhaupt dazugehört zu haben. Die Musik war immer noch hinreißend. Ich weiß zwar nicht, wie lange meine Grippe noch dauerte, aber der Blues war weg!


Die DVD habe ich mir mit dem Hintergedanken gekauft, sie irgendwann einmal gemeinsam mit meinem Sohn anzuschauen. Er steht neben Hip-Hop, Bass‘n Drums und so einem Zeug auch auf alten Sachen, also Santana, Led Zeppelin, The Who, Jimi Hendrix usw. Deshalb fand er den Film richtig cool. Interessant fand er natürlich auch, sich vorzustellen, dass ich auch mal so wie die Freaks in Woodstock herumgelaufen bin. Schlecht fand er das überhaupt nicht, ihm selbst wäre das aber für heute nicht stylish genug. Dass sich 500.000 Leute in aller Öffentlichkeit zudröhnen, ohne dass die Polizei eingreift, kam ihm allerdings etwas seltsam vor (Die Frage des Drogengebrauchs in meiner Jugend habe ich bislang in Eltern-Kind-Gesprächen eher defensiv gehandhabt).


Ich fand spannend, wie sehr ich den Film plötzlich mit doppelten Augen sah. Ich freute mich, dass es ihm trotz der Längen gefiel (2001 von Kubrik fand er kürzlich mangels action langweilig) und dass wir gemeinsam auf die Musik abfahren konnten. Ich fühlte mich dabei recht jung. Gleichzeitig betrachtete ich ein Ereignis, das 37 Jahre her ist und dachte daran, dass ein vergleichbar zurückliegendes Ereignis, das ich als 15jähriger mit meinem Vater hätte betrachten können, aus dem Jahre 1931 gewesen wäre. Ur- und Frühgeschichte also. Beiläufig fragte mich mein Sohn mal zwischendurch, ob Woodstock vor oder nach dem zweiten Weltkrieg gewesen wäre. Schluck… Beim Nachdenken fiel ihm dann aber auf, dass ich ein Nachkriegskind bin. Aber eben doch schon ziemlich alt.


Mir fielen neue Dinge beim Zusehen auf, z.B. wie wenige Frauen unter den Künstlern waren. Dass so gut wie keine Schwarzen in Woodstock dabei waren. Musik von weißen jungen Männern für ein weißes Publikum. Dann bemerkte ich, wie viele der Musiker schon gestorben sind und freute mich, dass in unserem Beruf die Lebenserwartung recht hoch ist. Auch machte ich mir mehr Gedanken als früher über die Logistik des ganzen Unternehmens und die Versorgung mit Lebensmitteln, die Beschädigungen der Landschaft und den Dreck, den das Festival hinterlassen hat - alles sichere innere Rückmeldungen, dass ich doch schon ganz schön alt bin. Vor allem gingen mir die ganze Zeit meine früheren Seh-Erfahrungen mit dem Film durch den Kopf, so dass ich eigentlich vier Filme gleichzeitig schauen konnte - ein eindeutiger Vorteil des Alters.


So gingen wir dann jung und alt zufrieden zu Bett und fanden beide heute morgen, dass es eine klasse Sache war, den Film zu sehen, auch wenn sich mein Sohn nicht ganz so frisch fühlte wie sein Alter.