Wissenschaftler vs. Staatsbürger

Eine der mehr oder weniger regelmäßigen Kommentatorinnen dieses Blogs hat gefragt, aus welcher Position oder Rolle heraus ich hier schreibe. Obwohl ich dies schon mehrfach thematisiert habe, will ich gern noch mal dazu Stellung nehmen.


Ich übersetze diese  Frage für mich folgendermaßen: Aus welcher Perspektive beschreibe, erkläre und bewerte ich die jeweils thematisierten Geschehnisse?


Zur Beantwortung der Frage unterscheide ich im folgenden zwischen der Perspektive des Wissenschaftlers und des Staatsbürgers, weil das die beiden Rollen sind, die mir hier relevant erscheinen und die miteinander in Konflikt geraten (können, müssen...).


Als Wissenschaftler (=1. Perspektive) versuche ich aus der Außenperspektive auf ein soziales System (sei es eine Paarbeziehung, Familie, Team, Organisation, die BRD oder die Welt bzw. Weltpolitik) zu schauen. Dabei wende ich persönlich systemtheoretische Konzepte an (andere Wissenschaftler nutzen andere Modelle, z.B. andere systemtheoretische Modelle), und diese von mir verwendeten Theorien sind moralfrei, d. h. - ich habe es schon mehrfach formuliert und dabei hefitgen Gegenwind ausgelöst - mit ihnen kann man caritative Projekte ebenso wie ein KZ effizient organisieren. Der Beobachter schaut aus einer neutralen Position, hat keine eigene Aktien im Spiel und ist primär an Erkenntnis interessiert (im Idealfall). Sie sind in der Hinsicht mit der Mathematik vergleichbar, die ebenfalls neutral ist (=nihilistisch?), und ihren Wert gewinnt sie erst in ihrem Gebrauch, d.h. der Anwender kann sich nicht auf die Theorie berufen, um seine Handlungen zu rechtfertigen. Er kommt nicht aus der Verantwortung für seine Taten heraus und kann sie nicht an Dogmen oder Theorien delegieren. (Ob solch eine neutrale Außenperspektive wirklich realisierbar ist, kann natürlich mit Recht in Zweifel gezogen werden, aber in Form von Hypothesenbildung kann dies immer versucht werden.)


Als Mitglied eines sozialen Systems hat man als Beobachter eine andere (=2.) Perspektive, denn man kreiert den Zustand, den man beobachtet mit oder verändert ihn, d.h. man ist nicht neutral, hat eigene Aktien im Spiel, folgt Interessen, hat Hoffnungen, Befürchtungen und Ziele. Man sitzt nicht auf der Tribüne und schaut den Spielern mehr oder weniger engagiert zu, sondern steht auf dem Spielfeld und bestimmt den Verlauf des Spiels (mit). Die handlungsleitenden Modelle können dann nicht (!) moralfrei sein, denn Moral bestimmt weitgehend, wer sich mit seinen Ansichten durchsetzt, Anschluss und Zustimmung findet, geachtet und geehrt oder geächtet wird. Verachtung bestimmt, wem "die Ehre abgeschnitten wird" und daher evtl. in seinem Einfluss begrenzt, ja, im Extremfall  ausgegrenzt wird. Mit ihm werden dann auch bestimmte Verhaltens- oder Sichtweisen, die so als nicht gesellschaftsfähig definiert werden, aus der Kommunikation ausgeschlossen (=exkommuniziert). Wer will, dass bestimmte Spielregeln sich in der Gesellschaft durchsetzen, muss sie praktizieren und dafür eintreten. Wer will, dass sich bestimmte Verhaltensweisen in der Gesellschaft nicht durchsetzen, muss sie disqualifizieren und dies auch in die Kommunikation bringen (und - das ist Geschmacksache - auf mildere oder heftigere Art); vor allem aber darf er sie nicht selbst praktizieren.


Was für einen Staatsbürger angemessen ist, ist für einen Wissenschaftler nicht akzeptabel, denn er hat aus der Außenperspektive bzw. "als ob" er nicht dazu gehört, zu beobachten.


Um im Blick auf diesen Blog alle Missverständnisse zu beseitigen: Ich schreibe hier als Staatsbürger, nicht neutral, sondern parteilich, ganz persönlich und oft wahrscheinlich auch oft unfair. Ich reagiere auf bestimmte, von mir - sehr subjektiv - beobachtete gesellschaftliche Tendenzen. Dabei engagiere ich mich emotional, vor allem, wenn mir diese Tendenzen eine Gesellschaftsform wahrscheinlicher zu machen drohen, die ich für fatal halte (deswegen meine kritische Poendsition gegenüber Putin, Trump, AfD, Pegida und ähnlichen, in ihrem Reden und Handeln meinen persönlichen Werten widersprechenden Akteuren). Aber auch als Staatsbürger nutze ich - wenn auch nicht immer konsistent und ganz sicher nicht neutral - meine wissenschaftlichen Kompetenzen. Aber klar: Dieser Blog ist nicht peer-reviewed, er ist ungerecht, parteilich, unsachlich. Er ist, soweit es meine Texte betrifft, bemüht, die mir vor Augen tretenden schreckichen Entwicklungen unserer Gesellschaft zu beeinflussen, indem ich sehr laut und deutlich sage, was ich - als Staatsbürger - denke, hoffe, befürchte und wie ich daher die Aktionen von Politikern bewerte...


Persönlicher Beleidigungen habe ich mich - nebenbei bemerkt - nach meiner eigenen Einschätzung bislang stets enthalten. Aber ich kann natürlich nicht verhindern, dass sich jemand persönlich beleidigt fühlt, wenn ich z.B. Putin kritisiere. Für seine Zimperlichkeit oder Jammerlappigkeit in der Hinsicht ist jeder selbst verantwortlich, d.h. mit wem oder was er sich identifiziert ist auch sein Problem.