Wer soll das bezahlen?

Ich habe mich in den letzten Tagen ein wenig utopisierend und – wenn ich die Texte im Nachhinein lese – bisweilen auch ein wenig moralisierend über gesellschaftliche Aspekte ausgelassen, die mich und andere beschäftigen: der Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die Gestaltung der Schule, unser Verhältnis zur Erwerbsarbeit…


Fraglos werden meine Beiträge bei einzelnen von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, die Frage aufgeworfen haben, wer Massnahmen wie die umfassende Einführung von Tagesschulen oder ein gesichertes Grundeinkommen für alle bezahlen soll. Sind diese Ideen vielleicht vor allem darum utopisch, weil sie ohnehin nicht finanzierbar und daher auch nicht realisierbar sind? Ich meine: Nein und versuche, mit meiner Begründung dieses Neins gleichzeitig die erste Frage zu beantworten.


Zuerst stellt sich die Frage, ob die genannten Umstellungen wirklich teurer wären als die bestehenden Lösungen. Wenn ich den Verwaltungsaufwand für Invalidenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe anschaue und die Koordinierungsprobleme zwischen den Verwaltungsinstanzen betrachte, dann bin ich gar nicht mehr so sicher, wie viel teurer es käme, allen erwerbsfähigen Bürgerinnen und Bürgern ein gesichertes Grundeinkommen zukommen zu lassen, welches ihre Grundbedürfnisse sichert. Auch eine Umstellung des Schulsystems auf Tagesschulen mit mehr Lehrkräften und gut qualifiziertem sozialpädagogischem Betreuungspersonal wäre durchaus finanzierbar – immerhin ist das finnische Schulsystem in Relation zum Bruttosozialprodukt nicht kostspieliger als das schweizerische. In Hinblick auf die Schweiz ist zudem zu berücksichtigen, dass sich dieses Land von der Grösse eines mittleren deutschen Bundeslandes 26 (!) unterschiedliche Schulsysteme leistet – nämlich exakt eines für jeden Kanton und Halbkanton. Es stimmt mich immer zuversichtlich, wenn ich sehe, welches Sparpotenzial der schweizerische Föderalismus (nicht nur bei den Schulen) in sich birgt. Doch zumindest vorläufig geht es uns offenbar noch nicht so schlecht, dass wir diese heilige Kuh schlachten müssten…


Aber kehren wir zurück zu unseren Überlegungen: Wenn mit ökonomischen Begründungen Klassen vergrössert, die Sozialhilfe gekürzt, Jugendhilfestellen gestrichen und weitere Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich vorgenommen werden, dann wird meistens Eines vergessen: Die Menschen, die keine oder eine schlechte Ausbildung und deswegen keine berufliche Perspektive haben; die mangels finanziellen Möglichkeiten kaum mehr über die Möglichkeit verfügen, an sozialem Leben zu partizipieren, weil das heute fast immer auch Geld kostet; die als auffällige Jugendliche „die harte Hand“ zu spüren bekommen, „damit sie endlich lernen, was Sache ist“ – diese Menschen verschwinden nicht aus unserer Gesellschaft. Sie sind nicht eliminierbar oder exportierbar – sie kommen wieder: sei es als Kranke, sei es als Sozialhilfebezüger, sei es als Delinquente.


Niemand wird so naiv sein zu vermuten, dass ein besseres Bildungssystem oder ein gesichertes Grundeinkommen Krankheit, Kriminalität und Sozialhilfebedürftigkeit zu Verschwinden bringt. Wenn man aber schaut, welche Faktoren die genannten Probleme beeinflussen – wie z.B. der Gesundheitszustand von den sozio-ökonomischen Verhältnisse beeinflusst wird oder welchen Einfluss soziale Randständigkeit auf Delinquenz und Gesundheit hat -, dann wäre es durchaus einige ökonomische Studien wert um herauszufinden, ob die Kosten des Gesundheitswesen, des Justizsystems und der Sozialhilfe immer noch so stark stiegen, wenn man eine wirklich nachhaltige Sozial-, Bildungs- und Familienpolitik betreiben würde. Jahrzehntelang hat man ob der Sozial- und Familienpolitik der skandinavischen Länder die Stirne in Furchen gelegt. Jetzt sind es exakt diese Länder, die weniger unter der schlechten Wirtschaftslage zu leiden haben als die meisten Staaten Mitteleuropas. Ich bin mir wohl bewusst, dass man die einzelnen Länder nicht eins zu eins vergleichen kann. Trotzdem wage ich die Prognose, dass uns die explodierenden Kosten im Gesundheits-, Sozial- und Justizwesen dazu zwingen werden, vermehrt „präventiv“ zu denken und auch denjenigen ein menschenwürdiges, erfüllendes Leben zu ermöglichen, die den gängigen Leistungs-, Aussehens- und Verhaltensnormen nicht entsprechen.