Wenn ich wüsste, wieviel 2 mal 2 ist, würde ich sagen: 4!

Heute werde ich mich mal um eine systematische Interpretation einer meiner philosophischen Lieblingsthesen bemühen :) Mulla Nasrudin, steh mir bei!


1) Was ist denn an "Wenn ich wüsste, wieviel 2 mal 2 ist, würde ich sagen: 4!" paradox?


Nun, eine Paradoxie liegt vor, wenn zwei Thesen zugleich notwendig bestehen, sich gegenseitig bedingen UND ausschließen. Nasrudin verbindet in seinem Satz die mehr als deutliche Gewissheit von 2 mal 2 mit dem explizit ausgesagten Nichtwissen darüber. Und der gegenseitige antinomische Bezug ist klar: wenn ich es weiß, wüsste ich es auch, wenn ich es wüsste, weiß ich es nicht.


2) Für was kann "Wenn ich wüsste, wieviel 2 mal 2 ist, würde ich sagen: 4!" als Metapher stehen?


Mir sind zwei "Anwendungen" besonders interessant: Da ist einmal die rätselhafte Asymmetrie zwischen möglich/unmöglich. Man kann ja nie sagen, irgendetwas gibt es nicht oder geht nicht: denn indem man dies behauptet, bringt man es logisch schon zur Welt, muss ja sagen, WAS nicht geht. Oder etwas praktischer mit Gunther Schmidt: "Eine einzige Ausnahme, und 40 Jahre hart erarbeiteten Leidens reichen nicht mehr aus, um behaupten zu können, es ginge nicht." Merkwürdige Gewissheit des Möglichen!

Und zum anderen wirft dieser Satz ein Licht auf die Lehre von den zwei Wahrheiten (siehe blog gestern): Denn die unbedingte Wahrheit ist nur im Modus von Gewissheit gegeben. Doch sobald man davon weiß, geht sie schnurstracks verloren. Man kann die unbedingte Wahrheit nicht "haben" und folglich auch nicht instrumentalisieren.


3) Und wenn es gar keine Metapher wäre?


4) In diesem Sinn ist für mich die Lehre von den zwei Wahrheiten zu einer Art Lackmustest geworden, wie sehr ich einem bestimmten Denken trauen kann: bei vielen Denkern finde ich sie implizit, und ich kann diese gut in solcher Perspektive verstehen, Platon, Kant, Peirce, Wittgenstein etwa. Und dann gibt es verschiedene Formen, diese Unterscheidung nicht klar zu treffen. Da wäre zunächst einmal die Möglichkeit, eine der beiden Seiten dieser Unterscheidung einfach zu löschen. Wenn man die unbedingte Wahrheit tilgt, dann bekommt man Positionen wie den radikalen Konstruktivismus oder auch softe Dekonstruktivisten wie Rorty. Die relative Wahrheit zu streichen, heißt, bei recht esoterischen Ansichten zu landen, wie etwa die Neosatsangleute, für die die Welt pure Illusion ist. Aber auch in den theistischen Religionen findet man strukturell Ähnliches, z.B. in sehr calvinistisch gestrickten Theologien, wo die Welt als Schöpfungsunfall eigentlich gar kein Existenzrecht hat. Interessanter sind die Fälle, wo es zu einer Art Verwechslung der jeweiligen Seiten kommt. Eine Verwechslung der relativen Wahrheit mit unbedingter Wahrheit scheint mir bei Nietzsche der Fall zu sein. Dann wird die Realität an und für sich absolut relativ, sie zerfällt. Umgekehrt vermute ich bei Bert Hellinger eine Verwechslung von unbedingter Wahrheit mit relativer Wahrheit. Aus unbedingter Wahrheit wird dann auf der Seite der relativen Wahrheit eine absolute Einsicht, die sich als unfalsifizierbar ausgibt und auch vermeintlich jenseits persönlicher Verantwortung steht. Die gemeinsame Form der beiden letztgenannten Positionen ist übrigens, dass Kraft funktional an die Stelle der Wahrheit tritt.


5) Wenn ich wüsste, wieviel 2 mal 2 ist, würde ich sagen: 4!