Welche Schule brauchen wir?

Ich setze mich nicht nur als Vater, sondern auch als Präventionsfachmann oft mit der Schule auseinander, denn die Schule ist ein wichtiger Interventionsort für die Prävention - insbesondere für die Suchtprävention. Wenn ich die Vielfalt der schulischen Präventionsaktivitäten zu überblicken versuche, dann frage ich mich bisweilen, ob mit einer gründlichen Umstellung der Schule nicht weit mehr präventive Wirkung zu erreichen wäre, als mit allen präventiven und gesundheitsförderlichen Massnahmen zusammen.


Ein Blick auf andere Schulsysteme wie jenes von Finnland zeigt, dass gute Leistungen in der (mit so viel Bedeutung aufgeladenen) Pisa-Studie mit einem anders gestalteten Schulsystem eher wahrscheinlicher als unwahrscheinlicher sind. In der Schweiz und (wie ich wahrnehme) auch in Deutschland wird auf das ernüchternde Abschneiden unserer Schüler und Schülerinnen zumindest von Seiten konservativer politischer Kreise mit den ewig gleichen Forderungen reagiert: frühere Selektion, damit die "schwachen" Kinder die "starken" nicht in ihrer schulischen Entwicklung hemmen; stärkere Betonung von Kernfächern wie Mathematik und Sprachen auf Kosten von Musik oder Sport; gesteigerte Aufnahme von Fachwissen an Stelle erlebnis-orientierten Lernens; mehr Druck, damit die Kinder möglichst früh "den Ernst des Lebens" kennenlernen - kurz: mehr Desselben.


Der Druck früher Selektion führt zu einem Wettbewerbs- und Konkurrenzdenken in einem Alter, wo vor allem Kooperationsfähigkeit und Gruppendenken gefördert werden müssten. Dies in einer Zeit, wo Egoismus und Einzelgängertum der Jugend durch immer wieder mit Nachdruck beklagt werden. Angesichts der Entwicklungsunterschiede von Kindern und Jugendlichen bis nach der Pubertät schafft die frühe Selektion Ungleichheiten, die nicht im Sinne der Wirtschaft und des Staates sein können, weil wie die berufliche Entwicklung vieler Kinder mit hervorragenden, aber später entwickelten Kompetenzen massiv erschweren. Zudem werden Kinder benachteiligt, deren Eltern die mittlerweile fast unverzichtbare schulische Unterstützung in der Freizeit durch Hausaufgaben- oder Nachhilfe nicht leisten resp. finanzieren können. Dadurch werden bestehende soziale Ungleichheiten verstärkt, was nicht zuletzt aus gesundheitspolitischer Sicht bedenklich ist.


Die Betonung der Kernfächer und die Forcierung des Erlernens von Fakten und Kategorienwissen ist in unserer Zeit der hyperdynamischen Wissensvermehrung aus wissenssoziologischer Perspektive schlicht nicht nachzuvollziehen. Was es heute braucht, sind Formen von forschendem Wissenserwerb, welche die Kinder dazu befähigen, Probleme zu eruieren und Problemlösungsvorschläge zu definieren. Nicht das Auswendiglernen von Faktenwissen sollte das Ziel einer zeitgemässen Bildung sein, sondern der Erwerb von Fähigkeiten, sich das erforderliche Wissen in angemessener Zeit beschaffen zu können. Es steht ausser Frage, dass das korrekte Erlernen der Muttersprache und der Erwerb von mindestens einer Fremdsprache ein wichtiges Ziel der Schulbildung ist. Auch die Notwendigkeit mathematischer Grundkenntnisse oder besser noch: einer gewissen Fähigkeit zu mathematisch-abstraktem Denken ist unbestritten. Zu bestreiten ist lediglich die Bedeutung, die solchen Fähigkeiten im Vergleich zu andern zugemessen wird. Es ist nicht nachvollziehbar, dass einer korrekten Orthographie und Syntax in unserer Zeit der Computer und Rechtschreibeprogramme ein solches Gewicht beigemessen wird - insbesondere, wenn dadurch die Schulkarriere so früh und stark beeinflusst wird. Legastheniker z.B. haben viele Merkmale, deren Fehlen sonst immer wieder beklagt wird: Sie sind enorm kommunikativ und sprachgewandt; sie zeigen ein grosses Interesse für Themen aller Art, und sie haben eine Fähigkeit zu vernetztem Denken, die andern Kindern und Jugendlichen oft abgeht. Das Problem ist, dass diese Stärken oft erst auf Schulstufen Bedeutung erlangen, welche diese Kinder nie erreichen, weil sie vorher wegen ihrer Schreibschwäche und ihrer Langsamkeit in Klein- und Sonderklassen ausgegliedert worden sind. Und weil ihre schulische Entwicklung durch das stete Versagen in den "relevanten" Fächern kombiniert mit den verpassten Selektionsweichen nur zu oft zum Spiessrutenlauf wird, der jegliche Lernfreude unterbindet und Versagensängste fördert.


Das bringt uns zur Methodik: Würde weniger auswendig gelerntes Faktenwissen verlangt und geprüft und mehr exploratives und erlebnis-orientiertes Lernen in Lerngruppen und Projekten gefördert, gewännen ganz andere Stärken an Bedeutung. Zudem würden in solchen Lernprozessen exakt die "sozialen Kompetenzen" gestärkt, die von der Wirtschaft übrigen Öffentlichkeit immer wieder gefordert werden. An Stelle von Präventionsprojekten, in denen der Gruppenzusammenhalt gefördert oder die Selbstwirksamkeitserwartung gestärkt wird (um dann im sonstigen Schulunterricht gleich wieder torpediert zu werden), sollte der Erwerb dieser Fähigkeiten konsequent in die schulischen Lernprozesse eingegliedert werden - ergänzt durch viel Bewegung sowie musische und gestalterische Tätigkeit, die das Gesundheitsempfinden, aber auch den kognitiven Lernerfolg positiv beeinflussen.

Natürlich kann man sich fragen, wie dies alles in den Unterricht integriert werden soll, wo doch die Schulen ohnehin immer zu wenig Zeit haben. Die Antwort ist einfach: Man muss von der Ansicht loskommen, dass es während der Schulzeit möglich wäre, einen grossen Teil des verfügbaren Wissens oder zumindest einen Überblick über das bestehende Wissen zu vermitteln. WAS in Deutsch, Geschichte, Geografie, Mathematik, Biologie, dem Handwerksunterricht oder im Sport gelehrt und gelernt wird, ist weit gehend bedeutungslos. Wichtig ist das WIE - damit den Kindern und Jugendlichen ihre Freude am Lernen nicht genommen wird und sie die Schule als Ort wahrnehmen, der umfassende kognitive, emotionale und soziale Lernprozesse fördert, und nicht als Hort der Langeweile und/oder erdückender Stressbelastung.


Der wachsende Druck nämlich, der lähmt mehr, als er fördert. Das Potenzial, das durch die Verstärkung von Versagenserfahrungen und durch den Verlust der Lernfreude verschleudert wird, ist immens. Die angesichts dieses Befundes unvermeidbare Frage ist, wieso sich die Schweiz und Deutschland ein solches Schulsystem antun - ein Schulsystem, das die Entwicklung exakt jener Probleme fördert, die dann mit Präventionsprojekten entschärft werden sollen. Dieser Frage wollen wir uns morgen zuwenden.