Welche Lehrlinge braucht die Wirtschaft?

Ich habe mich in meinem gestrigen Beitrag gefragt, warum die Staatsschulen in der Schweiz und in Deutschland so sind, wie sie sind; warum sie so früh selektionieren, warum sie dem Auswendiglernen von Fachwissen eine so grosse Bedeutung zumessen, warum die einzelnen Fächer bei ihren Selektionen so unterschiedlich gewichten und warum sie Leistungsdruck noch immer als Motivationsmittel erster Wahl eingesetzen. Eine Antwort auf diese Fragen mag in der Tradition unseres Schulwesens, um nicht zu sagen: im protestantisch geprägten Humanismus liegen, der Fleiss und Mühe mehr gewichtet, als alles, was mit (Lern-)Freude zu tun hat.


Neben dieser gesellschaftlich-historischen drängt sich auch eine organisationssoziologische Erklärung auf. Organisationssysteme spielen in unserer Gesellschaft eine herausragende Rolle. So ist nicht nur die Schule durchorganisiert, sondern auch die Erwerbsarbeit, die von den Kindern und Jugendlichen nach Abschluss ihrer Ausbildungszeit aufgenommen wird – so sie denn eine Anstellung resp. eine Lehrstelle finden. Firmen, Verwaltungen, Geschäfte und andere Organisationen, die Erwerbsarbeit anbieten, reproduzieren sich wie alle Organisationen über Entscheidungen. Entscheidungen wiederum sind eine unsichere Angelegenheit. Sie schaffen eine Sicherheit, die im Moment der Entscheidung gegeben ist, aber nicht auf Dauer gestellt werden kann, da jede Entscheidung hinterfragt und sich als falsch herausstellen kann. Damit gewinnen die „Entscheider“ an Bedeutung – Personen, denen im System und ausserhalb Entscheidungen zugerechnet werden.


Die These wäre nun, dass Personalverantwortliche in Organisationen bei der Einstellung von Schulabgängern und Schulabgängerinnen auf klare Entscheidungsgrundlagen angewiesen sind und dass die Zeugnisnoten eine solche Entscheidungsgrundlage bieten, obwohl der Informationsgehalt von Schulnoten für die Firmen und Lehrbetriebe gering bis sehr gering ist. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die Aufnahmeprüfungen, die für Lehrstellen und (zumindest in der Schweiz) sogar für „Schnupperlehren“ von einer Woche Dauer eingefordert werden, den gleichen Kriterien folgen wie die schulischen Prüfungen. Und dies, obwohl die Kenntnisse der geprüften Fächer (insbesondere Deutsch und Mathematik) für die auszuführende oder zu erlernende Tätigkeit kaum eine Rolle spielen – zumindest nicht, was die Aspekte betrifft, die geprüft werden. Natürlich sollte ein Lehrling fliessend Deutsch sprechen können, ob er oder sie aber ein Adverb von einem Adjektiv unterscheiden oder die Oberfläche einer Kugel berechnen kann, ist bei den meisten Stellen von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger wären kommunikative Kompetenzen, Flexibilität im Denken, Problemlösungsfähigkeit und eine gewissen Gewandtheit im Umgang mit andern Menschen – alles Kompetenzen, die sich aus den Schulzeugnissen gewöhnlich nicht ersehen lassen und sich auch im Rahmen eines ausführlichen Bewerbungsgesprächs höchstens ansatzweise eruieren lassen. Dazu kommt, dass die Entscheidungsbevollmächtigten das in jeder Entscheidung vorhandene Risiko für sich persönlich vergrössern, wenn sie sich auf Grund des guten „persönlichen Eindrucks“ für eine Bewerberin entscheiden, die schlechtere Schulnoten hat als ihre Mitbewerber und Mitbewerberinnen.


Etwas provokant formuliert lässt sich sagen, dass es den Firmen nicht primär auf die Kompetenzen von Schulabgängern und Schulabgängerinnen für die zukünftige Lehre oder Arbeitsstelle ankommt, sondern auf klare Selektionskriterien, mit der Entscheidungen später rechtfertigt werden können. Die Bedeutung dieser Kriterien ist gerade auch darum so hoch, weil bei den Schulabgängern und -abgängerinnen noch keine in Arbeitszeugnissen oder ähnlichen Dokumenten ausgewiesene Fähigkeiten im jeweiligen Beruf vorhanden sind. Diese Diskrepanz zwischen Kompetenzen für die Arbeits- oder Lehrstelle und klaren Selektionskriterien erklärt auch, warum Wirtschaftsleute immer wieder die Bedeutung von Teamfähigkeit, Problemlösungsfähigkeit und Sozialkompetenz betonen, im Regelfall aber dann doch die Bewerber und Bewerberinnen mit den besten Noten in Deutsch und Mathematik ausgewählt werden. Kommen neben mässigen Zeugnisnoten dann noch andere personale Aspekte wie eine dunkle Hautfarbe oder ein „ausländisch“ klingender Name dazu, dann sinken die Chancen für eine erfolgreiche Bewerbung nahezu auf Null – ungeachtet der Kompetenzen, die der junge Mann oder die junge Frau für die spezifische Lehr- oder Arbeitsstelle mitbringt.


Die Schule wiederum befindet sich in einer ähnlichen Lage; auch sie betreibt Risiko-Absorption. Sie weiss um ihre Aufgabe, Selektionskriterien für die berufliche Eingliederung der Schüler und Schülerinnen bereitzustellen, und sie weiss auch, dass sie damit Karrierenverläufe prägt und Ungleichheit produziert, obwohl sie gemäss ihrem humanistisch geprägten Selbstverständnis vor allem für Ausgleichung von herkunftsbedingten Ungleichheiten sorgen sollte. Auf der Suche nach Auflösungen dieser paradoxen Aufgabe, gleichzeitig für Gleichheit und Ungleichheit zu sorgen, verfolgt die Schule unterschiedliche Strategien. Eine ist, die „Schuld“ für die nicht zu vermeidenden Ungleichheiten in die Umwelt des Systems zu verlagern und sie den einzelnen Schülern und Schülerinnen resp. ihren Familien aufzubürden. Die Kinder sind dann zu faul, desinteressiert, kümmern sich nur um ihre Videospiele und Mobiltelefonie, und die Eltern nehmen ihre Erziehungsaufgabe und Vorbildfunktion nicht ausreichend wahr. Eine andere Strategie besteht darin, möglichst klare, objektivierbare Selektionskriterien für die Rechtfertigung ihrer Ungleichheit generierenden Entscheidungen zu finden. Hier bietet sich die Prüfung von auswendig gelerntem Faktenwissen geradezu an.


Will die Schule also pädagogisch (und wirtschaftlich!) sinnvollere Selektionskriterien für die Organisationen anbieten, die Erwerbsarbeit oder Lehrstellen anbieten, dann tut sie gut daran, Messinstrumente für eine einigermassen objektivierbare (meint: konsensfähige) Bewertung von Kompetenzen wie Problemlösungsfähigkeit, Kreativität, Flexibilität, Sozialkompetenz etc. zu entwickeln. Es ist zu vermuten, dass solche Messverfahren das erfordern, was in der empirischen Sozialforschung als 'qualitative Methodik' (im Gegensatz zur quantitativen Methodik) bezeichnet wird. Das wiederum würde wohl bedeuten, dass in der Ausbildung der Lehrkräfte nicht nur ein grösseres Gewicht auf die Vermittlung zeitgemässer Lerntheorien und Methoden gelegt werden müsste, sondern auch die Frage einer umfassenden Bewertung nach möglichst objektiven Kriterien viel mehr Bedeutung erhalten müsste.


Aber wer weiss: Vielleicht geht es unserer Gesellschaft ja gar nicht primär um die Erziehung unserer Kinder und Jugendlichen zu autonomen, kritischen, selbstverantwortlichen Mitgliedern, sondern eher um Trivialisierung, um Erreichung von möglichst hoher Erwartbarkeit und einfacher Lenkbarkeit...