Warum fehlt die Beziehungsseite so oft im deutschen Unterricht?

Der Fokus meiner systemischen Kehrwoche soll auf Schule und Unterricht liegen. Nach der weiten Verbreitung in Familientherapie und Beratungspraxis ist auch in Deutschland das systemische und konstruktivistische Denken und Handeln in diese pädagogischen Bereiche gelangt und findet dort zunehmend mehr Interessierte. Systemisches Denken als ein Denken in Beziehungen und für Beziehungen ist auch für Unterricht und Schulen wichtig. Deshalb behaupte ich, dass eine Didaktik heute immer zunächst Beziehungsdidaktik sein muss.

Angesichts der Pisa-Studien sollte dies auch so sein, denn bisher ist viel zu wenig die Rede davon, wie entscheidend die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden sind, wenn gelernt werden soll. Die Finnen als regelmäßige Testsieger haben in ihrer Lehrerbildung z.B. ein konstruktivistisches Leitbild für die Didaktik – und davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Wenn man jedoch regelmäßig als Lerner oder Besucher deutsche Schulen betritt, dann drängt sich der Eindruck auf, dass besonders ab der Sekundarstufe wenig von der Beziehungsseite bei vielen Lehrenden bisher anzukommen scheint. Wie kann es angesichts der weltweiten Zunahme an Schulungen in Kommunikation, an Reflexionen über Methoden- und Sozialkompetenzen, die wir für jeden Beruf fordern, sein, dass es gerade in den Schulen noch immer zu einer gegenwärtig in Deutschland festzustellenden Vernachlässigung der Beziehungsseite des Lehrens und Lernens und einer nur mangelhaft entwickelten Beziehungsdidaktik kommt? Ich habe zwei Hypothesen:


(1) Dahinter steckt, so glaube ich, vor allem eine große Illusion über das Lernen: Viele Lehrende gehen immer noch von einem pädagogischen Robinson-Modell aus. Robinson steht in der Aufklärungspädagogik für die Möglichkeit eines individuellen Lerners, der durch Einsatz von Kraft und Disziplin sich am eigenen Schopf packt und so aus dem Sumpf zieht. Indem er individuell lernt, scheint er das Wesen des Lernens begriffen zu haben: Sich mit den Inhalten allein und den Gegenständen, die für sein Leben wichtig sind, individuell zu beschäftigen. In einer vernünftigen Welt sagen ihm Experten, was diese Inhalte und Gegenstände sein sollen, aber immer müssen wir allein uns mit ihnen beschäftigen und eigenverantwortlich lernen. So hat man Schulbücher erfunden und große Schulklassen mit frontalen Methoden, denn auch in solchen Klassen lernt scheinbar ein jeder wie auf einer Insel für sich allein. Die ist eine Hypothese über die Wirksamkeit von kausalen Vorstellungen für das System.


(2) Die zweite Hypothese ist systemischer Art und beschreibt eine Folge aus der deutschen Geschichte. Nach 1945 haben die Deutschen sich in den westlichen Besatzungszonen verweigert, jegliche Form von Einheitsschulsystem (wie es weltweit üblich ist) zu übernehmen und für die Schule und den Unterricht dort anzuknüpfen gesucht, wo es um Individualisierung und die Einzelkämpferleistung geht. Verpönt waren nun nicht nur Schuluniformen, sondern auch die Idee einer Community, auf die erzieherisch Wert gelegt werden könnte. Nein, man wollte eine an Begabungen und Selektionen aufgeteilte gerechte Zuordnung von Leistungsfähigen auf entsprechende Schulen, um jedem die Freiheit zu geben, die er verdient. Heute wissen wir, dass dieses Konzept gescheitert ist. Stärker als alle anderen Industrieländer wird in Deutschland nach sozialer Schicht und Herkunft selektiert, und selbst das begabteste Arbeiter- oder Migrantenkind hat in diesem System kaum eine hinreichende Chance auf Gerechtigkeit. Man könnte als Außenstehender fast denken, dass die Nazis irgendwie doch gewisse Ziele erreicht hätten.


Teilen Sie meine Hypothesen? Und wie könnten wir für beide, sofern sie für Sie zutreffen sollten, eine Lösung finden?