Wahrheit, Geltungsanspruch und Wirklichkeit

Gerade komme ich von einer Elternkonferenz der einzigen (?) Jena-Plan-Schule in Brandenburg, auf die einer meiner Söhne die zweite Klasse besucht. Es handelt sich dabei um ein reformpädagogisches Schulkonzept, das von Peter Petersen (1884 bis 1952) entwickelt wurde. Von diesem Konzept, aber noch mehr von seiner Praxis (Lust am Lernen und nicht Leistung steht im Vordergrund, ältere Schüler helfen jüngeren, gemeinsames Lernen und Feiern etc.) bin ich sehr begeistert. Da jetzt vier Lehrer gleichzeitig erkrankt sind, ist das Konzept der Schule bedroht, weil das Schulamt aufgrund bürokratischer Vorgaben nur Lehrer/innen aus anderen Schulen abziehen kann, die aber nicht „jena-plan-kompetent“ sind. Wie war das noch einmal mit dem Bürokratie-Abbau und der PISA-Studie? Naja, man kann ja nicht an alles denken.


Auf der Elternkonferenz schoss mir immer wieder in den Kopf, dass wir das drittreichste Land der Erde sind – nach Hartz IV vergisst man das leider immer wieder – und jeden Tag kontinuierlich reicher werden. Schließlich haben wir ein – wenn auch geringes –Wirtschaftswachstum und sind seit Jahren Exportweltmeister: Die Bundesrepublik Deutschland wird noch immer beständig reicher an materiellen Mitteln (Wertschöpfung), reicher an Produktivitätseffizienz, reicher an Produktionsmitteln und – noch – immer reicher an Wissen. Als drittreichstes Land der Erde – ich muss es noch einmal sagen -, das zudem in seiner Geschichte noch nie so reich war wie jetzt, fehlt es an Geld für unser Bildungssystem. Da frage ich mich doch: Wohin geht eigentlich all das Geld? Vielleicht zum Geld?! Demzufolge werden die Reichen reicher und die Armen ärmer, schließlich muss das Geld ja irgendwo herkommen. Und wir wissen ja, wo sich das Geld am leichtesten holen lässt.


Dementsprechend ist nun die Schere zwischen Arm und Reich seit Bestehen der Bundesrepublik so groß wie nie zuvor geworden und bei den Bildungschancen von Kindern aus – wie es euphemistisch und diffamierend zugleich heißt – „sozial schwachen“ Familien schneidet die Bundesrepublik im Vergleich zu anderen europäischen Ländern folgerichtig extrem schlecht ab. In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts hieß es noch, man müsse Kinder aus ärmeren Schichten fördern, weil es galt, einen Akademikermangel zu beheben, was zur Folge hatte, dass ein Schüler-Bafög eingeführt wurde und gezielte Förderprogramme entwickelt wurden.


Auch durch diese Segnungen war es mir – der ich aus einer kinderreichen und finanziell schlecht gestellten Arbeiterfamilie stamme – möglich, auf das Gymnasium zu gehen und später zu studieren – allerdings hatte ich immer wieder – wenn auch am Rande – mit der sozialdarwinistischen Ideenlehre zu kämpfen, die besagte, dass Kinder aus der Unterschicht – so hieß das damals noch – genetisch bedingt versteht sich – einfach nicht so viel „auf der Pfanne“ hätten wie beispielsweise Bildungsbürgertumskinder. Und weil das so sei (nach der Devise: „Dumm bleibt dumm.), wäre eine finanzielle Förderung für Arbeiterkinder nutzlos und verschwendetes Geld, stattdessen sollte man Eliten fördern. Spürbar war das beispielsweise an der Benotungspraxis: Wenn neue Lehrer/innen nach dem Beruf der Eltern fragten, einen sonst aber nicht kannten, wusste ich: Nun muss ich mich über Gebühr anstrengen, weil ich entsprechend zensiert wurde. Lasen meine Lehrer/innen stattdessen die Zeugnisse des Vorjahres, dann konnte ich mich gemütlich zurücklehnen und gute Noten auch ohne viel Anstrengung absahnen.


Eine starke konservative Fraktion unter den Gelehrten, insbesondere solche Intelligenztest-Psycholog/inn/en wie Hans-Jürgen Eysenck, stützte übrigens das Argument der „angeborenen Blödheit von Arbeiterkindern“ (Natürlich würde das vornehmer ausgedrückt. Zum Beispiel: mit „erblich bedingter Intelligenzminderung“, einer genetischen Disposition und dergleichen mehr – was mich fatal an das Vokabular bei der psychiatrischen Schizophrenie-Forschung erinnert) mit den „neuesten epidemiologischen Untersuchungen“: Denn die „objektiven“ Resultate waren zweifelsfrei. (Merke: Wenn in der Wissenschaft und insbesondere in der Geisteswissenschaft als Ergebnis irgendwo Zahlen (1,2,3 usw.) auftauchen, dann ist klar: Es handelt sich um reine Objektivität (Wahrheit). Wie es zu diesen Zahlen gekommen ist, danach fragt sowieso keiner mehr.) Mittlerweile – die Jahrzehnte sind ins Land gegangen – nährt sich der Verdacht, dass es Eysenck mit seinen Testergebnissen nicht allzu genau genommen hat und anscheinend so zu den Resultaten kam, zu denen er kommen wollte. Oder genauer: Eysenck stützte sich auf Untersuchungen des Psychologen Cyril Burt an 53 eineiigen Zwillingspärchen, von denen Burt 38 frei erfunden hatte.


Heutzutage beruft man sich nicht mehr auf solche suspekten Forschungen, um das Bildungspotential von Kindern aus der Arbeiter- und (mittlerweile) Hartz IV-Schicht vor sich hinrotten zu lassen (Fragt sich nur, aus welchen Motiven solcherart vorgegangen wird? Vielleicht schlicht und ergreifend aus Konkurrenzgründen?) Es reicht die ökonomischen Daumenschrauben anzuziehen und beispielsweise Studiengebühren einzuführen. In dieses Horn bläst mittlerweile sogar die taz, die ja vor mehr als zwei Jahrzehnten einen guten Start hatte und nun mehr und mehr im (grünen) Bildungsbürgertum ohne viel soziales Bewusstsein angekommen zu sein scheint (Hallo tazler/innen, was ist bloß aus euch geworden? Hat euch jemand klammheimlich aufgekauft? Vielleicht ein Bertelsmann-Vertreter? Naja, das wäre wieder ein neues Fass, das ich aufmachen könnte. Ich lasse das jetzt mal lieber.)


Ein weiteres Rezept gegen die Bildungsmisere (oder vielmehr: gegen die Bildung??) soll nun – wie immer wieder diskutiert wird und bedauerlicherweise auch schon an manchen Stellen praktisch umgesetzt wurde – darin bestehen, dass man die Schulen und Universitäten einem Effektivitäts-Wahn unterwirft, der offensichtlich – ich muss es wieder mal schreiben – aus der Hexenküche des Neoliberalismus entstammt. (Jetzt beschleicht mich doch gleich das Gefühl, dass ich hier herumjammere, was ja bedeuten würde, dass ich den Wert des Depressionsbarometers der Story Dealer AG zumindest etwas in Richtung „Verdacht auf Depression“ bringe. Allerdings muss ich zu meiner Verteidigung sagen, dass es mir nur dann so richtig gut geht, wenn ich zumindest im gesellschaftlichen Kontext auf die Probleme hinweise, die entweder verschwiegen oder so aus dem Zusammenhang gerissen werden, dass sie schicksalshaft erscheinen, obwohl sie von keinem Naturgesetz, sondern von Menschen verursacht und aufrecht erhalten werden.).


Kinder gehen ab jetzt mit 5 Jahren in die Schule und brauchen nur noch 12 Jahre bis zum Abitur, wobei sie womöglich noch eine Klasse überspringen können, um dann mit 16 Jahren zur Uni gehen zu können und mit 18 Jahren ihren ersten Uniabschluss (bachelor) in die Tasche stecken zu können. Sodann werden sie schnellstmöglich in Karriere oder Arbeitslosigkeit entlassen. Ganz persönlich halte ich das für ein Horrorszenario, das sich aber in meiner Praxis – zumindest zum Teil – immer wieder bestätigt: Wo junge Leute schon jetzt wie Espenlaub (Angst- und Panikattacken) zittern, weil sie gemerkt haben, dass sie sich vollkommen alleingelassen fühlten in ihrem elitären Studiengang, in den sie sich an einer elitären Studieneinrichtung eingeschrieben hatten: Die Professoren hatten keine Zeit sich mit dem „jungen Gemüse“ zu befassen, stattdessen wurde eingetrichtert, dass jeder selbst schauen müsste, wie er zurechtkäme. Außerdem könne man sowieso ganz beruhigt sein, denn einzig und allein zähle hier Leistung und wer nichts leistet, der fliegt sowieso ganz schnell raus. Bei der entsprechenden Schilderung einer meiner Kundinnen beschleichte mich der Verdacht, dass sogenannte Elite-Universitäten vielleicht nur wegen des „Vitamin Bs“ oder wegen entsprechender Geldströme zu ihrem zweifelhaften Ruhm gekommen sind.


Wenn ich das so schreibe, dann fühle ich mich ganz schön alt: Schließlich habe ich mir während meiner Schul- und Universitäts-Ausbildung viel Zeit gelassen, Zeit das Leben in seiner Vielfalt kennen zu lernen, Zeit um Erfahrungen zu machen.


Zum Abschluss dieses Ausflugs über die „neue deutsche“ Bildungsmisere ein paar pointierte Thesen – Keine Angst! Ich habe keine Ambitionen, Politiker zu werden!):


1. Die Eingangsvoraussetzungen für einen Wechsel zum Gymnasium und zur Universität müssen erleichtert werden, Quereinstiege aus anderen Schularten, Hochschulen und auch aus der Lehre sind zu fördern bzw. zu ermöglichen.

2. Um halbwegs soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen, sollte ab dem 16. Lebensjahr für Kinder einkommensschwacher Familien, die zur Schule gehen, ein entsprechendes „Bafög“ als „Zuschuss“ gezahlt werden.

3. Das Erststudium sollte selbstverständlich gebührenfrei sein, die Regelstudienzeiten aufgegeben werden und ein Bafög natürlich für Kinder aus finanziell schlecht gestellten Familien ebenfalls als Zuschuss bis zum 10. Semester gezahlt werden.

4. Abitur sollte in der Regel nach 13. Schuljahren absolviert werden.

5. Unterschiedliche Schularten (Gesamtschule, dreigliedriges Schulsystem etc.) sollten nebeneinander bestehen können nach der Devise – frei nach Heinz Foerster – „Mehr Möglichkeiten sind besser als weniger!“.

6. Lernen sollte in erster Linie Spaß machen.


Doch eigentlich wollte ich ja etwas ganz anderes schreiben: Nämlich einen kleinen Exkurs oder ein kleines Bekenntnis zum Thema „Wahrheit und Wirklichkeitskonstruktion“, zu dem mich Tom Levolds weblog vom 30. August angeregt hat (Leider fehlt es mir etwas an Zeit, andernfalls könnte ich mich beständiger im Internet aufhalten und Kommentare zu gescheiten weblog-Aussagen machen, die dann hoffentlich auch so gescheit sind wie die weblogs.)


Konstruktion hin oder her, wir kommen halt nicht um sie herum. Obwohl: Natürlich gibt es die eine Wahrheit, bloß dummer- oder glücklicherweise kann kein Mensch sie erkennen. Das Ding an sich bleibt dem menschlichen Beobachter verborgen (trivial, trivial). Das schützt aber nicht davor, dass wir davon ausgehen, dass unsere Wirklichkeitskonstruktion der Wahrheit nahe kommt. Meine sowieso!! Und dass wir uns wünschen, die anderen mögen bloß mit dem Kopf nicken, wenn sie unseren weisen und klugen Überlegungen lauschen (Geltungsanspruch). Und – wie Fritz Simon sagt - wir kämpfen alle für unsere eigene Wahrheit: „Sich nicht auf objektive Wahrheit beziehen zu können, heißt ja nicht, nicht für seine eigene, selbst ausgesuchte oder anerzogene oder wo auch immer her bezogene Wahrheit kämpfen zu können.“


Allerdings bleibt dann noch die Frage, wie der Geltungsanspruch der eigenen Wahrheiten am besten realisiert werden kann. Und die Antwort – und das ist meine „Wahrheit“ – lautet: Man kann den eigenen Überzeugungen nur dadurch größtmögliche Geltung verschaffen, wenn man darin vertraut, dass die Gedanken, Ideen, Wirklichkeitskonstruktionen, Episteme (oder wie man auch immer die „Dinger“ nennt) sich selbst Geltung verschaffen und aufhört, Geltung von anderen einzufordern. Damit bleiben die eigenen Ideen bloße Anregungen aus der Umwelt des empfangenden autopoietischen Systems (also meines aktuellen Gegenübers). Aufgrund einer derartigen Haltung können dann Äußerungen (Schallwellen) die Autonomie des/der Anderen weitestgehend wahren. Sie können deswegen auch als „Denkangebote“ bezeichnet werden. (Das Einnehmen einer solchen Haltung wäre ein wesentlicher Teil einer Ethik 2. Ordnung, mit der ich mich in den nächsten Tagen befassen werde).