Wahrheit

"Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners." Vielleicht trifft dieses Statement sehr gut, wie der heutige common sense, zumal der systemtheoretisch reflektierte, zu diesem Thema steht. Und die nette skeptische Paradoxie, in die man durch so eine Behauptung konsequent gedacht eigentlich läuft, wird eben "entfaltet", indem man sich um Wahrheit gar nicht mehr bekümmert. Der Skeptiker, der weiß, dass jede Aussage falsifizierbar ist, gewinnt nämlich sehr viel: Gibt es keine Wahrheit mehr, dann entfällt auch ihre Autorität. Niemand, weder eine äußere noch eine innere Stimme, kann dann noch im Namen der Wahrheit Anweisungen zum seligen Leben geben. Ich selbst bin Drehbuchautor und Regisseur und Produzent und Held des Films, der sich "mein eigenes Leben" nennt.


Die Praxis ist komplizierter. Es kommen Überraschungen, Widerstände, Planloses. Wie kann das sein? Die Antwort, auch das sei dann eben Teil von Buch und Regie, ist doch ziemlich unbefriedigend. Die Freiheit hat Grenzen, das Leben ist größer. Nun kann man natürlich die übliche Argumentation vorführen: wenn das Leben nicht solipsistisch ist, dann gibt es etwas außer mir, das unabhängig von mir ist. Was unabhängig besteht, heißt Realität. Sobald ein Beobachter überhaupt nur diese Unterscheidung treffen kann, zwischen sich und von ihm unabhängiger Realität, muss es auch einen Zugang dazu geben. Eine Grenze zu ziehen ist nur möglich, wenn zu ihren beiden Seiten ein Bezug bestehen kann. Nicht zufällig wird diese Fähigkeit Wahr-nehmung genannt. Interessant hierbei auch, dass im Eingangsstatement der Lügner noch vorkommt, der zwischen wahr und falsch zu unterscheiden weiß.


Es scheint mir, dass ich Kopfschmerzen habe, klingt ziemlich absurd. Manches scheint also ziemlich klar und gewiss zu sein. Wenn allerdings ein sehr bekannter systemischer Aufsteller sagt, "die Wahrheit ist in dem Augenblick, in dem sie aufleuchtet, voll gültig", ist Skepsis angebracht. Was "aufleuchtet", befindet sich im Modus des Wahrnehmens. "Voll gültig" kann eine Wahrnehmung nicht sein, insofern sie perspektivisch, beobachterabhängig und somit fehlbar ist. Von welchem Standpunkt aus wird hier Standpunktlosigkeit behauptet? In Bezug auf eigenes Erleben im Erleben selbst mag das so sein. Sobald aber das Erleben sich auf etwas oder jemand bezieht, wird ein Standpunkt eingenommen, Irrtümer sind möglich. Voll gültige Einsichten über andere Menschen kann es also nicht geben, sie wären aus ähnlichen Gründen übrigens auch nicht aussprechbar.


Doch gibt es, wie mir scheint, eine Lösung, diese beiden Verständnisweisen von Wahrheit miteinander zu vereinbaren. Sowohl in der Nachfolge von Parmenides im Westen wie von Nagarjuna im Osten wurde die Lehre einer doppelten Wahrheit vertreten. Diese besagt, sehr kurz skizziert, dass im Bereich von Individuen nur irrtumsanfällige Wahrheiten möglich sind, und Wahrheit insofern hier allein als relative Wahrheit vorkommen kann. Dennoch ist die Bezeichnung Wahrheit berechtigt, insofern eben etwas ist und nicht nichts. Diese unbedingte Wahrheit nun, ihre andere Seite, lässt sich eben nicht wahrnehmen, sondern, das ist die These, nur sein. Einen Aspekt davon kennen wir, durch das So-Sein unserer Subjektivität, die wir unmittelbar erfahren. Sobald wir darüber reflektieren und sprechen, befinden wir uns schon wieder in der Ebene der relativen Wahrheit.


Wozu beginne ich dieses Blog mit solchen Überlegungen? Nun, ich bin Philosoph und kann das nicht von meinem Leben trennen. Und als systemischer Aufsteller, das ist mein Beruf, komme ich implizit oder explizit fast in jeder Aufstellung mit solchen Fragen in Berührung. Hier, wie vielleicht sonst selten in dieser Dichte, sind Perspektiven und Unmittelbarkeit, Konstruktion und Realität im Spiel und in der Wandlung. Doch wie dies verstehen?


Die Heimat der Wahrheit ist die Frage.