Vorschau, Lob des Rennrads

(geschrieben am Sonntag, 5.11.06, in Orientierung an alten Gewißheiten, daß die Woche am Sonntag anfängt, was aber schon lange nicht mehr gilt:)


Werte Leserin, werter Leser,


als Kehrwöchner soll ich Ihnen erzählen, was mich bewegt. "Was jemanden bewegt" ist schön doppeldeutig: man kann es aktiv und passiv verstehen. Außerdem ist das "Bewegen"ein weites Feld. Ich werde es einengen und mich am Leitfaden meiner Agenda der kommenden Woche orientieren. Das wird am Anfang vielleicht etwas öde aussehen, aber man wird sehen, was die Woche an Mitteilenswertem bringt. Erst soll also der Rahmen, in dem das Ganze ablaufen soll skizziet werden. Wenn Sie jetzt weiterlesen, tun Sie dies auf eigene Verantwortung (Quelle: Tour Heft 19, Oktober 2006, S. 129).


Morgen, Montag, wird aktiv bewegt: der Tag findet am Schreibtisch statt. Ich hoffe, mit meinem Beitrag zum Thema Resilienz in Pflegefamilien für die Zeitschrift für Klinische Sozialarbeit weiter zu kommen. Und wenn das Wetter so bleibt und nicht noch kühler wird, lassen sich sicher noch ein paar Kilometer auf dem Rennrad zurücklegen. Das ist das Schöne im Leben eines Hochschullehrers: Man arbeitet mindestens 50 Stunden in der Woche, wird bezahlt für ca. 40, kann aber sich die Zeit einteilen.


Am Dienstag führen wir in der Fachklinik Melchorsgrund, eine Einrichtung in Oberhessen, die vorwiegend Patienten mit der Doppeldiagnose Drogenabhängigkeit/Psychose behandelt, ein ganztägiges Fallseminar durch, wie jeden Monat. Ursprünglich (vor bald fünf Jahren) hatte dies zum Ziel, die Grundlagen für eine Dokumentation zu erarbeiten, die den Kostenträgern gegenüber den Nachweis liefert, daß die langen Verweildauern in dieser Klinik fallangemessen sind. Daraus wurde dann eine Weiterbildungsveranstaltung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und jetzt ist daraus ein Projekt im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative Equal des Europäischen Sozialfonds geworden (www.skr-equal.de). Die Fallrekonstruktion, die in meiner "Einführung in die Genogrammarbeit" enthalten ist, ist dort entstanden.


Der Mittwoch beginnt mit einer Vorstandssitzung des Sonderforschungsbereichs 580 "Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Tradition, Diskontinuität und Strukturbildung" an den Universitäten Jena und Halle/Wittenberg (www.sfb580.de). In diesem SFB untersuche ich in einem Teilprojekt mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seit 2001 in vier Jugendämtern in Ost- und Westdeutschland den Übergang zum neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz. Es ist dies der seltene Fall, daß Fachleute in Ost und West fast gleichzeitig (die im Osten drei Monate früher) mit Neuem konfrontiert waren, und wir wollen wissen, wie sie damit verfahren sind und auf welche Ressourcen und Handlungspraktiken sie dabei zurückgegriffen haben (und das immer noch tun, denn der Wandel ist eine Schnecke). In der darauf folgenden Sitzung geht es um die Einführung des bachelor und des master für das Soziologiestudium in Jena, also um die Abschaffung der Universität per Gesetz und um deren Umwandlung in eine Berufsschule. Hier erleben wir den Wandel von Organisationen am eigenen Leib, anstatt ihn bei anderen zu studieren, und wir folgen dabei dem Prinzip, zu retten, was zu retten ist. Der Abend wird dann wieder produktiver, denn in meinem Arbeitsbereich findet das Fallseminar statt, das für alle Studierenden offen ist und in welchem Magisterarbeits- und Dissertationsthemen am Material besprochen werden, aber auch Gäste von außerhalb, die etwas vorzustellen haben, sind willkommen. Letzte Woche ging es um die Frage, wie Leute, die seinerzeit enteignete Haushaltsgegenstände aus jüdischem Eigentum gekauft oder sonstwie sich angeeignet haben, diese Gegenstände in ihren eigenen Haushalt, in ihr Familienleben und in ihr Familiengedächtnis integriert haben und wie sie mit der Geschichte dieser Gegenstände leben können.


Am Donnerstag finden die beiden Vorlesungen statt (die Zeit der Proseminare und Seminare ist vorbei, angesichts von Veranstaltungsgrößen zwischen 120 und 400). Erst geht es um "unkonventionelle Familienformen" und speziell um die Stieffamilie. Dabei interessiert mich vor allem die Frage, wie das Zusammenspiel zwischen quasi universellen Strukturen der Familie (die Triade) und aktuellen Entwicklungen der Auflösung von Triaden theoretisch gefaßt werden kann - am Fall, selbstverständlich. In der systemischen Therapie selbst herrschen hier unterschiedliche Auffassungen vor: die einen beharren auf dem Aufrechterhalten der ursprünglichen Triade der leiblichen Eltern und der Kinder i. S. eines "co parenting system", die anderen reden ohne weitere Umstände vom "sozialen Vater" (meist verschwinden ja die Väter, selten die Mütter), weil sie das Konstrukt der leiblichen Herkunft für irrelevant halten, denn es ist ja "nur" ein Konstrukt. Es geht darum, den Studierenden die Lust daran zu vertreiben, zu süffigen und zu einfachen theoretischen Konstruktionen hinterher zu laufen. Danach die Einführung in die Grundzüge der Soziologie mit ca. 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, von denen einige schon haben erkennen lassen, daß sie das Theoretisieren für Blödsinn halten. Das klingt nach Kärrnerarbeit.


Am Freitag und am Samstag (wenn Ihnen der buchhalterische Stil allmählich zu doof wird: Ich habe Sie gewarnt! Quelle: Tour Heft 10, Oktober 2006, S. 129) steht Weiterbildung am Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung in Meilen/ZH auf dem Programm: Systemisches Arbeiten in der Kinder- und Jugendhilfe.


Was mich im Rahmen dieses Wochenprogramms so alles bewegt, werden Sie dann (auszugsweise) hier in dieser Woche nachlesen können. Bewegung ist hier auch wörtlich zu nehmen: es werden 1.500 km zusammenkommen. Abends dann, gegen Mitternacht und aufregenden Stunden (bekomme ich den Anschluss in Basel noch oder nicht, die SBB wartet nicht auf deutsche Züge) schleichen sich Emmylou Harris und Mark Knopfler ins Ohr, ohne Gerät und ohne Strom:


I've a million miles of vagabond sky

clocked up above the clouds

and I'm still your man for the roaming

for as long as there's roaming allowed

there'll be a rider and there'll be a wall

as long as the dreamer remains

and if it's all for nothing

all the roadrunning has been in vain


all the roadrunning

all the roadrunning


Das also zum Einstieg. Schönen Abend noch. Der Tatort aus Köln soll gut sein, sagt die FAZ. Ich schaue ihn einewäg (Gruß an die Kolleginnen und Kollegen in der Schweiz) an, denn die beiden Polizisten erinnern mich an zwei Kollegen, das schafft Heiterkeit.


Bruno Hildenbrand


Montag, 6.11.06


Der Tatort war tatsächlich nicht so übel, mit volkspädagogischen Ausflügen in die Gender-Thematik ("früher suchte sie ihre Mitte beim Yoga, jetzt macht sie beruflich Karriere").


Am interessantesten war heute die gute Stunde auf dem Rad, bei nicht ganz komfortablen 10 Grad plus. Erstmals seit 9 Wochen konnte ich wieder meinen Fahrradcomputer benutzen, der so interessante Sachen anzeigt wie Steigung, Tageshöhenmeter, Jahreskilomter etc. 9 Wochen lang war nicht nicht abgelenkt von Angaben über Durchschnittgeschwindigkeit, aktueller Geschwindigkeit, um nur die wichtigsten Terroristen zu nennen. Radfahren ohne Computer ist wie Therapieren ohne Fallpauschalen. Oder: Radfahren mit Computer heißt sich orientieren an Standardzeit, ohne Computer ist Orientierung an gelebter Zeit. Letztere ist dem Leben angemessener. Und übrigens auch sicherer, denn vor lauter Starren auf die Zahlen kann es passieren, daß man das Schlagloch oder noch Schlimmeres übersieht. Und dennoch will ich am Ende wissen, was der Schnitt an diesem Tag war (schlecht, 24,2 km), wieviel Höhenmeter es waren, welche Maximalgeschwindigkeit erreicht wurde (keine hohe). Mit dem Esel in diesem Sommer in den Cevennen war es einfacher. Der hatte, unser Campinggepäck auf dem Packsattel transportierend, seine eigene Geschwindigkeit (ca, 3,5 km/h bei einer Tageskilometerleistung von um die 22 km), und wenn ihm nicht mehr nach Laufen war, blieb er einfach stehen - eine Stunde lang, wenn es sein mußte. Noch nie haben wir einen so entspannten Urlaub erlebt. Die Formel könnte lauten: gelebte Eselzeit = gelebte menschliche Zeit.


Was soll das alles? Wie gesagt: Es geht um die Frage, was das menschliche Maß ist und welche Bedeutung es im Beratungs- und Therapieprozess hat. Standardisierte Zeitvorgaben zielen auf Krankheiten und damit am Patienten vorbei. Therapie, die am Fall orientiert ist, also an den Klientinnen und Klienten, hat ihre eigene Zeit. Es hilft, wenn man sich das am eigenen Erleben klar macht.