Vorbehalte und Utopien

Liebes Webtagebuch,


wenn ich gestern meinte, die Naturwissenschaft könne die Welt nicht retten, der verbesserte Umgang der Menschen miteinander schon, dann muss ich das natürlich etwas genauer erklären. Also das verhält sich so: Natürlich habe ich nichts dagegen, dass mich der Doktor vorbeugend gegen Grippe oder andere schwere Krankheiten impft, denn ohne moderne Medizin würde die Menschheit inklusive mir vermutlich sofort aussterben. Motiviert kann eine so radikale Aussage eigentlich nur dadurch sein, dass mich das permanente Misstrauen gegen den homo philosophicus, dem generell Abgehobenheit und damit Nutzlosigkeit unterstellt wird, ziemlich auf die Nerven geht. Wohin ich auch blicke, überall werden Naturwissenschaftler in den Himmel gelobt, mit Preisen und Forschungsstipendien bedacht. Die Aufteilung des Nobelpreises ist ja der anschaulichste Beweis für diese Behauptung. Einzig Friedens- und Literaturnobelpreis sind Nicht-Naturwissenschaftspreise. Alle anderen Nobelpreise dienen als Feigenblatt für die Tatsache, was Nobels Erfindungen in der Welt an Schaden und Leid angerichtet haben. Wer stiftet einen Staatspreis für systemisches Denken? Oder ein Stipendium für konstruktivistisch visionäres Denken? Oder eine Professur für systemisch-konstruktivistische Anwendungen? Es gibt ja schon einige wenige, ich weiß...


Ein Beispiel aus meinem Fachgebiet: Ich lese in der Tageszeitung „Der Standard“, dass der bedeutende deutsche Musikwissenschaftler Ludwig Finscher den renommierten Balzan-Preis bekommen hat für die Herausgabe der Enzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart“, jedem Insider als MGG bekannt. Ich meine, die Herausgabe eines solchen Werkes ist eine wahnsinnige Leistung und die MGG eine Institution. Ich habe mich wirklich gefreut über die Vergabe dieses mit 1 Mio. Schweizer Franken dotierten Preises. Und was lese ich in den Postings dazu? „Die MGG ist fehlerhaft, viele Artikel unvollständig...“. Diese Problemtrance rief meinen sofortigen Ärger hervor und ich sah mich veranlasst, in isomorpher Weise eben jenen Satz, dass die Naturwissenschaft die Welt nicht retten wird, zu posten. Die zynische Antwort folgte prompt: „Glauben Sie im Ernst, dass die Musikwissenschaft die Welt retten wird?“ Nein, natürlich glaube ich das nicht, aber ich frage mich dennoch, warum beim Thema Eliteuni oder University of Excellence immer nur von naturwissenschaftlich-technischen Fächern gesprochen wird und nicht von einem Spitzenforschungsinstitut für Systemische Visionen beispielsweise, von einem MIT für SYST. Manchmal habe ich leider den Eindruck, systemisch-konstruktivistisches Denken existiert derzeit nur in vereinzelten Elite-Köpfen (dies ist dezidiert nicht abwertend, sondern anerkennend gemeint!) und wenn’s politisch ans Eingemachte geht, setzen sich die ewig gestrigen Zukunfts-Entscheidungsträger mit ihren ewig gestrigen Zukunfts-Strategien durch. Sogar – und das ärgert mich am meisten – in meinem Schulbuch, das ich im Fach Philosophie verwende und das staatlich für den Philosophie-Unterricht genehmigt ist, ist Konstruktivismus nur mit einem einsamen einzigen Wort erwähnt, systemische Familientherapie gar in einem Cartoon im Umfeld von Tantra und Edelstein-Therapie zu finden (gegen diese Darstellung werde ich demnächst sämtliche Interessensvertretungen mobilisieren!). Und das im 21. Jahrhundert nach Christus. Vielleicht habe ich zuwenig Geduld. Vielleicht zu wenig Vertrauen in die systemische Mission. Vielleicht einen Mangel an Information. Bin ich zu pessimistisch? Zu sensibel? Wie aber würde eine Welt aussehen, in der systemisches Denken der Regelfall wäre?


Ich habe mir das einmal zum Thema „Straftaten“ überlegt. Und im Zuge dieser Überlegungen habe ich mir auch eine systemisch orientierte Rechtssprechung vorgestellt: Nehmen wir an, jemand hat eine Bank überfallen und steht vor dem Richter. Systemisch gesehen ist ja alles mit allem und jede mit jedem vernetzt, so auch das Leben unseres Bankräubers in konzentrisch sich ausweitenden Kreisen mit allen Menschen der Menschheit. Richter und Geschworene sind zum Glück Systemiker und lassen diese zirkuläre Sichtweise in den Urteilsspruch einfließen. Demnach wird dem vermeintlichen Straftäter gedankt, die Menschheit wieder einmal an ihr Versagen erinnert zu haben und es werden ihm zwei zusätzliche Urlaubswochen zugesprochen. Jeder Mensch der restlichen Menschheit wird hingegen zu zwei Tagen Sozialarbeit verurteilt bzw. zu einem Fortbildungsseminar zum Thema gerechtere Verteilung der Güter. Liebe Leserinnen und Leser, Sie haben es sicher schon erraten, aber bei einer systemischen Rechtssprechung handelt es sich um eine lösungsorientierte Rechtssprechung mit nachhaltiger weltumspannender Wirkung.


Mein Freund Norbert Langhold hatte unlängst ein virtuoses Reframing für die Unfassbarkeit des Weltalls parat. Er meinte, die Menschheit, als ganzes System betrachtet, sei nichts anderes als eine Ansammlung von Samen, welche die Mutter Erde hervorgebracht hat, einzig zu dem Zwecke der Befruchtung anderer Planeten. Nach einem langen Reifungsstadium sei nun der Augenblick gekommen, wo die Samen ausströmen und wie Pollen andere Planeten begatten würden (im Falle des Mondes sei dies ja schon 1969, fünf Tage nach meiner Geburt als Erd-Samen, passiert). Mir fällt dazu der altbekannte Witz ein – und damit schließt sich der Kreis im Zusammenhang mit der Rettung der Welt – bei dem sich Erde und Mond auf einen Kaffee treffen. Fragt der Mond die Erde um ihr Befinden. Die Erde meint, es gehe ihr schlecht, weil sie von Parasiten geplagt werde. „Welche Parasiten?“ meint der Mond. „Menschen glaub ich, werden sie genannt!“ so die Antwort. „Ach so“ meint der Mond beruhigt, „na mal keine Sorge, die kenn’ ich auch schon, die vergehen von selbst!“


Um diesem pessimistischen Zukunftsszenario noch eines draufzusetzen, zitiere ich noch Saint Exuperys kleinen Prinzen: „Die Erde ist nicht irgendein Planet! Man zählt da hundertelf Könige, wenn man, wohlgemerkt, die Negerkönige nicht vergisst, siebentausend Geographen, neunhunderttausend Geschäftsleute, siebeneinhalb Millionen Säufer, dreihundertelf Millionen Eitle, kurz – ungefähr zwei Milliarden erwachsene Leute.“ Genug Klientel für Psychotherapeuten, Gott sei Dank! Es gibt zwar Firmen, die Grundstücke auf dem Mond verkaufen, aber welche Bank kümmert sich um die Eintreibung der Schulden, die die Menschheit an der Welt, als Samen ihrer eigenen Produzentin, begangen hat? Quasi als autoaggressiver Akt? Wird es also eine Rettung oder eine Lösung in der Menschheitsfrage geben?


Im Ausblick auf morgen frage ich mich in dieser Hinsicht ernsthaft, ob der Schöpfer tatkräftig mitmischt und Konstruktivist ist oder nicht und tatenlos zusieht.