VON DER TOTEN SEELE

Zunächst möchte ich mich für die interessanten Kommentare bei allen herzlich bedanken. In meinen beiden letzten Beiträgen am Wochenende werde ich mich mit etwas mehr Ruhe und Muße auch diesen Texten widmen.

Heute (also gestern) hatten wir in Mainz „Rätselecke“: Neuropathologen und z.T. auch Pathologen aus mehreren Städten und Instituten kommen zusammen und besprechen gemeinsam ungewöhnliche und rätselhafte Befunde. So werden Erfahrungen weitergegeben und unterschiedliche Auffassungen von außergewöhnlichen Erkrankungen des Nervensystems diskutiert.

Im Dezember werde ich 65 und werde daher meine berufliche Tätigkeit beenden. Unser Treffen heute war also für mich der Beginn eines langen Abschieds. Ich sage zwar allen, die mich danach fragen, dass das drohende Ende dieses Lebensabschnitts für mich überhaupt kein Problem darstellen wird; ich hätte noch so viel anderes zu tun und würde mich riesig freuen, endlich mal nach Herzenslust all das zu tun, was ich bisher seit Jahren schon aus Zeitnot immer wieder verschieben musste. Das stimmt zwar alles; aber so ganz vorstellen kann ich’s mir noch nicht. Natürlich will ich noch in diesem Jahr einen kleinen Band mit Vortragstexten zusammenstellen; gewiß: Ich plane insgeheim, mich mit der Geschichte meiner Familie auseinanderzusetzen, insbesondere mit der Biographie meines Vaters, an den ich mich überhaupt nicht erinnern kann. Der Titel steht schon fest (die Überschrift: das ist manchmal sogar das wichtigste): Portrait eines unbekannten Soldaten.

Mein Vater war Nationalsozialist. Er war schon im ersten Weltkrieg an der Front gewesen und hatte dann ab 1939 aktiv auch am II. Weltkrieg teilgenommen. Im April 1945 ist er vermutlich im Kessel von Halbe umgekommen und seine Gebeine ruhen wahrscheinlich auf dem Soldatenfriedhof bei Halbe: Eines von den Tausenden von Gräbern unbekannter Soldaten im Kiefernwald bei Halbe. Vor ein paar Jahren war ich mal da und hatte plötzlich das Gefühl, in seiner Nähe zu sein. In einem seltsamen Traum – Jahre zuvor – hatte ich die Knochen meines Vaters auf einem Acker gefunden und zur Bestattung in einem zerfallenden Jugendstilgebäude abzugeben versucht: ein kleines Kistchen mit Knochen.

Ich kann nicht so tun, als ginge mich seine Geschichte nichts an. Es wäre einfach nicht wahr, wenn ich sagte, dass ich keinerlei Verantwortung verspürte für das, was in Deutschland vor meiner Zeit geschah. Die Auseinandersetzung mit dieser persönlichen und auch gemeinsamen Geschichte ist seit Jahren eine mich sehr belastende Aufgabe.

Man kann sich den wechselseitigen Zusammenhängen zwischen individueller und kollektiver Geschichte nicht entziehen. Rückblickend ist man stets bemüht, den Toten irgendwie gerecht zu werden. Kann es so etwas geben: Gerechtigkeit für die Seele der Toten ?

Eine der schlimmsten Strafen für die toten Seelen in Dantes Inferno war das Auslöschen jeglicher Erinnerung im Gedächtnis der Lebenden. Eigentlich müsste man daher die Bösesten der Bösen in der Geschichte absichtlich vergessen. Das Gegenteil geschieht. Das Interesse der Nachgeborenen an den Verbrechen der „großen Männer“ der Geschichte scheint größer als die Verehrung der wenigen Gerechten.

Gewiß: Jeder sieht ein: Die Analyse der geschichtlichen Katastrophen ist extrem wichtig für die Hoffnung, in Zukunft ähnliches vermeiden zu können. Nie wieder ! Wir müssen das Vergangene vergegenwärtigen um daraus Wichtiges zu lernen für die Gestaltung der Zukunft.

Hat das schon jemals funktioniert ? Ich habe manchmal meine Zweifel. Offenbar ist das ein sehr zäher, langwieriger Prozeß, der nur über viele Generationen hinweg langsam voranschreiten kann. Und das ist genau der Punkt: Die Pflege der die Generationen übergreifenden geschichtlichen Erfahrungen; das ist mir ein tiefes Bedürfnis bei dieser (auto-) biographischen Arbeit.

Es ist auch der Versuch, etwas für das Leben der Seele der Toten zu tun. Die meisten Seelen im Reich der Schatten haben kein Gedächtnis mehr; sie haben ihren Durst mit dem Wasser des großen Stroms des Vergessens: Lethe – gestillt.

(Das hat auch etwas Gutes: Ich muß nicht befürchten, von meinen Patienten verprügelt zu werden, wenn ich ihnen in der Unterwelt begegne.)

Nur frisches Blut vermag ihre Erinnerungen zurückzurufen; daher lechzen sie nach dem roten Saft des Lebens wie Vampire, um nicht für immer vergessen zu werden, um nicht endgültig zu sterben.

D.h. solange sich Lebende kümmern und sorgen um der Toten Seele, solange sind deren Seelen nicht tot.

Bei meiner beruflichen Tätigkeit – als Pathologe – ist dieser Gedanke wichtiger Bestandteil meiner Motivation.

So wie der Ast eines Baumes Holz gewordene Erinnerung ist an Tausende Stunden Wind; so wie die Blätter eines Baumes als grüne Lichtgestalten von ihrer Beziehung zur Sonne erzählen; so ist der Körper eines Menschen wie eine Spurensammlung seines langen Weges durch die Zeit.

Es mag seltsam klingen: Aber ich werde meine Leichen vermissen, wenn ich in Rente bin. Es sind wahrhaftige menschliche Begegnungen der anderen Art; Lügen haben hier keinen Platz.

Ich betrachte meine Arbeit als einen letzten Dienst der Toten für die Lebenden; ich helfe ihnen lediglich dabei.

Bei uns im Eingang des Instituts hängt eine wunderschöne große Holztafel von Andreas Felger mit dem Titel:

HIC GAUDET MORS SUCCURRERE VITAE

Ich glaube, die Seelen der Toten wissen das. Denn ihr Übergang ist gewiß mit einem Zuwachs an Weisheit und Wissen verbunden, von Generation zu Generation, von Inkarnation zu Inkarnation – über Tausende von Jahren hinweg.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich nicht doch schon einmal das Entweichen der Seele bemerkt hätte, ob die Toten nicht etwas leichter würden, wenn ihre Seele sich zurückzieht. So einfach lässt sich der Seelenvogel: BA nicht fangen !


Ich glaube, die Seele ist nichts anderes als das vieldimensionale, extrem komplexe Beziehungsgefüge eines Lebewesens über viele Raumzeiten hinweg. Es ist eine schöne Aufgabe, der Erhaltung dieses reinen Bezugs zu dienen.


Mögen alle, die sich in wegloser, schrecklicher Wildnis finden –

Die Kinder, die Alten, die Ungeschützten, die Umnachteten-,

Von gütigen Himmlischen beschützt werden.


Bis bald also. Am Sonnabend wird es etwas später; Freitag ist Badetag !

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich Ihr Jürgen Bohl