Von der Nützlichkeit der Sinnlosigkeit

Heute ist meine Grundbefindlichkeit eine ganz andere als gestern. Obwohl ich nicht weniger Termine und Verpflichtungen habe, fühle ich mich entspannter und es gelingt mir, in meinen Dialogen mit mir selbst, mich nicht zu hetzen. Heute morgen nahm ich mir die Zeit, erst einmal eine Stunde im Herbstwald spazieren zu gehen - vor einem Schultermin mit einer 10. Klasse Gymnasium zum Thema Schwangerschaftkonfliktberatung. Die Schule liegt im ländlichen Gebiet und ich nahm einfach einen Zug früher. Die Begegnung mit der Klasse war angenehm. (Konfliktberatung und Rahmenbedingungen wurden im inszenierten Live-Gespräch "bearbeitet"). Meine Arbeitszeit verging wie im Flug.


Zurück in der Beratungsstelle hatte ich ein 2. Gespräch mit einer Klientin, deren persönliche Geschichte und ihre Art, ihr Leben zu gestalten mich bereits im Erstgespräch berührt und bereichert hatte.

Von einer Hebamme, die mich erst vor wenigen Wochen kennengelernt hat, ist sie an mich verwiesen worden. Die Hebamme hatte mich als "Fachfrau für Trauerprozesse bei Tod- und Fehlgeburten" bei der Klientin benannt.

Die Klientin hatte vor wenigen Wochen ihr Kind in der 37. Woche tot zur Welt gebracht. Das Kind verstarb ohne ersichtlichen Grund.

Als ich die Klientin im Wartezimmer abhole, stellen wir beide fest, dass wir uns "schon immer" vom sehen kennen und uns sympathisch sind. Sie duzt mich gleich und ich habe den Eindruck (der sich später bestätigt), dass sich ein intensives joining erübrigt. In der Auftragsklärung stellt sich heraus, dass die Hebamme davon ausgeht, dass "tiefgehende", (langanhaltende?) Trauerarbeit notwendig sein könnte. Frau F. erklärt sie könne sich das auch vorstellen, denn sie sei entsetzlich traurig. Sie beschreibt die verschiedenen Prozesse, die sie die letzten Wochen und Monaten durchlebt hat: Von der Tatsache, dass dieses Kind zunächst völlig ungeplant war, "alle ihre Pläne über den Haufen geworfen" hat, und wie es für sie mit der Zeit der Schwangerschaft langsam immer deutlicher wurde, dass sie dieses Kind will. Sie erzählt, dass aus diesem Grund für sie auch eine pränataldiagnostische Untersuchung nicht in Frage kam, die Frauen ab 35 als sogenannte "Risikoschwangere" "angeraten" wird und dass ein Abbruch für sie auch bei einem behinderten Kind für sie nicht im Raum stand, da sie bereits einen erwachsenen, schwerbehinderten Sohn hat. Diesen hat sie allein aufgezogen und nebenher ein Studium absolviert. Sie beschreibt sehr überzeugend, dass sie sich dies durchaus ein zweites Mal vorstellen kann.

Sie äußert außerdem, wieviel Wut sie auf ihren toten Sohn hat, neben all der Trauer, dass er sich "so sang- und klanglos" einfach wieder verabschiedet habe. Neben vielen anderen Themen, z. B. ihrem Glücklichsein in ihrer 2. Ehe, ihren Erfahrungen der Abwertung als Mutter eines sichbar behinderten Sohnes etc., fokussiert sie immer wieder die Sinnfrage. Auf meine Frage, welche Sinnkonstruktionen sie denn von ihrem Umfeld angeboten bekomme, benennt sie Verschiedenes.

Von: "Na, ja, Du hast das Kind von Anfang an nicht richtig gewollt, deshalb ist es gegangen!" (Na, da hat aber einer seinen Hellinger wieder ordentlich gelernt, denke ich mir während des Gesprächs) - bis hin zu: "Das Kind wäre vermutlich sowieso behindert gewesen, so ist es für alle Beteiligten doch viel besser!" zitiert die Klientin unterschiedliche Sichtweisen. Wir besprechen, welche Deutungen welche Konsequenzen bei der Klientin erzeugen, welche hilfreich sind, welche für sie ganz persönlich weniger hilfreich. Während des Gesprächs empfinde ich viel Mitgefühl und bin sehr präsent. In aller Trauer der Klientin scheint auch immer wieder ihr Humor und ihre Stärke durch. Sie hat für sich selbst bereits verschiedene Trauerrituale entwickelt. Ich beglückwünsche sie dafür und gebe noch einige zusätzliche Anregungen. Sie möchte gerne drei Termine im vorraus festlegen - nur so zur Sicherheit, was ich gerne tue. Mit einer Rückfallprophylaxe beendete ich das Erstgespräch.


Und heute war dann, wie gesagt das zweite Gespräch. Die Klientin wirkte strahlend, aufgeräumt und heiter. Ich bin überrascht, freue mich und frage Frau F. was geschehen ist und wie sie sich die Veränderung erklärt.


(Meist bin ich dazu geneigt, den Erfolg und die Verantwortung für eine Veränderung in die gewünschte Richtung, der Klientin zuzuschreiben, aber natürlich bekomme ich gerne Komplimente für gute Arbeit. Ich bin also durchaus für die unterschiedliche Beantwortung der Frage: "Was hat geholfen?" offen. Die in "Sozialarbeitskreisen" verbreitete "dumme Angewohnheit"- das eigene professionelle "Licht unter den Scheffel zu stellen" - dazu fehlt mir zunehmend die Bereitschaft.Na, vielleicht handelt es sich um eine weibliche Eigenschaft, nicht um eine sozialarbeiterische?)


Die Klientin sagt, ihr habe das Gepräch so sehr geholfen, danach habe sich alles verändert. Und obwohl sie weiterhin sehr viel weine, was ja auch gut sei, wenn man traurig sei, sei alles jetzt viel leichter. Ich bin neugierig und frage, ob sie eine Erinnerung daran hätte, was genau ihr geholfen habe. Darauf hin erklärt sie als bedeutungsvoll, dass sie alles habe aussprechen dürfen, aber vor allem meine Frage: "Angenommen, Du würdest Dir erlauben zu denken, es gäbe in all dem Leid und dem Tod Deines Sohnes überhaupt keinen Sinn: in welcher Weise würde das Deine Befindlichkeit beeinflussen?" Da wäre ihr schon beim zuhören "ein Stein vom Herzen gefallen" Sie sei heute auch nur gekommen, um sich zu verabschieden. Die beiden "Sicherheitstermine" benötige sie momentan nicht. Bei Bedarf würde sie jederzeit gerne wieder kommen.


Über diese Anwort war ich überrascht und amüssiert. Ich kann mich nicht mehr erinnern, das ich die Frage überhaupt gestellt habe. Gleichzeitig weiss ich, dass ich schon häufig im Gespräch mit KollegInnen und FreundInnen geäußert habe, wie anstrengend ich es empfinde, dass in der "Psychoszene" permanent versucht wird, allem einen Sinn "abzuringen", auf "biegen und brechen". Manchmal erscheint mir die ganze Deuterei anstrengender, als das "eigentliche" Problem. Meist geschieht das im Hinblick auf das Leben anderer. Es läßt sich aber auch im Umgang mit sich selbst bei vielen Professionellen beobachten. Gunther Schmidt hat einmal während eines Seminars eine ähnliche Wahrnehmung geäußert, sinngemäß: "Man darf sich ja nicht mal den kleinen Zeh anstoßen, ohne dass man gefragt wird: Was soll Dir das sagen? Was soll da vielleicht in dir angestoßen werden?"