VON DER KUNDSCHAFT DES HIPPOKRATES

Heute ist mein letzter Tag in dieser Reihe. Ich hatte noch über so vieles schreiben wollen; Zeit und Kraft erwiesen sich jedoch als sehr begrenzt. Einiges habe ich auch falsch gemacht: Der Zeilenumbruch war eine Katastrophe. Ich hatte meine Texte mit einem anderen Rechner geschrieben und sie dann von einer Diskette in die Homepage kopiert. Daß dabei die Zeilen ganz anders geordnet werden, habe ich einfach zu spät bemerkt.

Es ist schwer, sich mit dem Merkmal der Unzulänglichkeit anzufreunden.


Nächste Woche soll auch bei uns in der Uniklinik Mainz wieder gestreikt werden. Die Jünger des Hippokrates begehren auf ! Ich denke, es ist eine vielgliedrige Motivationskette, die jetzt die Ärzte dazu brachte, ihren Unmut einmal öffentlich zu zeigen: Streik ! Nachdem schon seit Jahren alle Hinweise auf die unerträgliche, unzumutbare Situation der Ärzte nicht ernst genommen wurden. Ich glaube, es geht im Grunde nicht allein ums Geld. Die Misere hat viel tiefere, grundsätzliche Hintergründe.

Ich habe gestern (eigentlich schon vorgestern – es ist wieder Nacht) ein Kinderbuch für meinen Enkel AARON gekauft: Tiertaxi Wolf & Co. von Will Gmehling und Caroline Ronnefeldt im Verlag Sauerländer. Ich lese es mit großer Freude. Auf p. 30 wird ein Zeitungsartikel abgebildet. Die Schlagzeile lautet: „Berühmter Tierarzt hilft todkrankem Igel ohne Geld ! Igel wieder gesund !! Solche Ärzte braucht das Land !!!“ Drei Ausrufezeichen stehen in dem ‚Blatt’ Nr. 154 auf Seite 3. „Solche Ärzte braucht das Land !!!“ Das stimmt. Wie wahr ! Doch warum gibt es derer so wenig ?

Ich glaube, es ist auch Folge einer von der Politik der Gesellschaft initiierten Fehlentwicklung. Die phantastischen Fortschritte der Medizin-Technik sind teuer und irgendeiner muß das bezahlen; das sieht wohl jeder ein. Aber warum ist die Gesellschaft nicht bereit, für diesen erhöhten Standard der modernen Medizin auch entsprechend mehr zu zahlen ? Weil sie im Grunde gar nicht zufriedener ist als vorher mit den Dienstleistungen der Jünger des Asklepios. Im Gegenteil: Der Unmut der Kranken steigt. Und das liegt nicht daran, dass sie unzufrieden wären mit den Leistungen der neuen Großgeräte oder mit den Ergebnissen der medizin-technischen Versorgung.


Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin auch für den Streik; nämlich um die Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass man den Ärzten nicht auch noch die Sorge um die Ökonomie aufbürden darf; sich kümmern um die Patienten erfordert ihre ganze Kraft allein!


Die Kranken beklagen die ungenügende Zuwendung der berufenen Heiler; sie erwarten immer noch, dass diese sich den moralischen Maximen des Hippokrates verpflichtet fühlen. Doch das ist lange her ! Die Gesellschaft wäre auch gar nicht mehr bereit, die Bedingungen des Hippokratischen Eids im einzelnen zu akzeptieren.


Eines der Grundübel der gegenwärtigen Entwicklung des Gesundheitswesens ist in meinen Augen die Verbindung der Kunst des Heilens mit ökonomischen Konzepten. Heilkunst und Ökonomie sind wie Öl und Wasser; sie passen einfach nicht zusammen. Eine Ölpest auf dem Ozean ! Als sich zeigte, dass die medizinische Versorgung teurer würde – nicht weil die Ärzte mehr verdienten oder sich schamlos bereichern wollten, sondern weil die rasante technische Entwicklung bezahlt werden musste, suchte man verzweifelt nach Auswegmöglichkeiten.

Warum eigentlich ist die Gesellschaft nicht bereit, diesen technischen Fortschritt zu bezahlen ? Wenn es um ein neues Auto geht mit den allerneuesten technischen Raffinessen, fragt kaum einer, ob es nicht auch ohne ABS und GPS, ohne Airbag und so weiter ginge. Die Kunden sind bereit zu bluten und zahlen: Wegen der Sicherheit; aus Gründen des Prestige. Den Neid des Nachbarn zu erleben, lässt man sich einiges kosten.


Doch wenn es um die eigene Gesundheit geht, ist Sparen angesagt. Man fühlt sich gar nicht zuständig. Meine Gesundheit ist ein Problem des Gesundheitswesens; mich geht das gar nichts an. Mit vollen Händen wird Geld ausgegeben, wenn es darum geht sich selber krank zu machen. Aber die Wiederherstellung der Gesundheit, die Heilung: Das sollen die anderen bezahlen!


Hier ist doch was im Denken falsch !!! (auch drei Ausrufezeichen)

Für die Gesundheit gilt es mehr zu lassen als zu tun !


Ein kranker Mensch in einer Not sucht einen anderen Menschen auf und bittet ihn um Hilfe.

((Dieser misst als erstes auf der nach oben offenen Jammerskala den pekuniären Wert der Not und sammelt Punkte für die Endliquidation. Möge das Ende noch fern sein !))

Dies ist die Urszene der Heilkunst (natürlich nicht die in den doppelten Klammern). Die Begegnung eines Leidenden mit einem Heilkundigen hat in meinen Augen immer noch etwas Heilsames – ja fast Heiliges an sich.


((Total antiquiert: Nonsens ! aus ökonomischer Sicht.))

Vergleichbar mit dieser Urszene sind die Ereignisse in den Tempeln der Religionen: Vom Tode bedroht wendet sich die weidwunde Seele an ihren Gott: Herr hilf ! Aus großer Not schrei ich zu Dir !

Auch hier sollten Händler sich nicht niederlassen. Jesus jagte sie aus dem Tempel und Luther hat sie an den Pranger gestellt. Wer vermöchte heute die Händler aus den Heilkunsttempeln zu verjagen ? Niemand mehr. Das ist vorbei.

Man hatte sich gedacht und hofft es immer noch, dass durch die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien in das Gesundheitswesen alles wie von alleine, wie von Zauberhand – sich wieder zum besten kehren werde.


Die Betriebswirtschaftslehre ist die neue Religion.


Ich bete an die Macht des Geldes – wird täglich bei der Morgenandacht intoniert.

Es ist geradezu zynisch, von Ärzten zu verlangen, dass sie sich marktwirtschaftlich korrekt verhalten, - und gleichzeitig an ihre archaische Moral zu appellieren und ihnen das Ethos der Urzeit vorzupredigen.


Der marktwirtschaftliche Götzendienst gedeiht dank des Geldes Gift.


Aber die Seelen leiden: Die Seele des Kranken in seiner Not, aber auch die Seele des gefesselten und geknebelten Heilers, der seiner ursprünglichen Aufgabe, einfach nur zu helfen – immer weniger nachkommen kann.

Früher galt das NIL NOCERE (das Nicht zu schaden) eigentlich nur dem Patienten. Heute heißt NIL NOCERE: Wolle alles tun, um dem System keinen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen ! Die Notleidenden selbst ist aus dem Blickfeld fast verschwunden.

Und diese aber rächen sich für die Missachtung ihrer Pein: Sie überlegen: Wie könnte ich aus den Fehlern meines Arztes bare Münze schlagen ? Es ist fast so wie im Boxring: Man lauert auf die ersten Schwächen und Fehler des Gegners. Angst und Misstrauen haben sich breit gemacht.

Die Misere zeigt sich schon bei der Wahl der Wörter: Gesundheitsmanagement. Das klingt so, als könnte man das körperlich-seelische Wohlbefinden durch eine professionelle PR-Kampagne garantieren. Die Perversion des ärztlichen Ethos in seiner alten humanistischen Tradition gipfelt in der Wahl des Patienten zu einem Geschäftspartner im Ausbeutungssystem: Gemeinsam will man verdienen an der Krankheit.


„Ist das nöt’ge Geld vorhanden, ist das Ende meistens gut.“ – fällt mir da ein. Solange sich einer findet der’s bezahlt, kann man sich sogar ein Ethos leisten.


Das Gesundheitswesen könnte viel billiger – und gleichzeitig besser – sein. Es wird so viel Geld in völlig unsinniger und gleichzeitig auch leider schädigender Weise verschleudert ! Für die fixe Idee „SICHERHEIT“ wird maßlos viel Geld ausgegeben. Ich sage immer: „Das wahnhafte Streben nach Sicherheit zerstört, was es zu bewahren trachtet: das Leben nämlich.“ Viele Untersuchungen werden allein aus dem Grund gemacht, sich abzusichern, sich zu schützen vor Regressansprüchen der Patienten oder aus Angst vor juristischen Konflikten. Für alle Fälle – vorsichtshalber – man möchte sich nicht vorwerfen lassen, etwas versäumt zu haben. Man wittert überall schon den Verrat !


Wenn es doch gelingen könnte, das VERTRAUEN der Urszene der Heilkunst wieder herzustellen !!! (drei Ausrufezeichen). Vertrauen: nicht in eine „MARKE“ (auch Markenartikel sind zuweilen ‚fake’ und enttäuschen); vielmehr Vertrauen zu einem anderen Menschen, der sich ernsthaft bemüht um die Kunst des Heilens und hierbei nicht an seinen Stundenlohn denken muß. Es gilt, auch diesen Freiraum für das eigentliche und ursprüngliche ärztliche Tun wieder herzustellen. Wo sind die Peitschen, die Händler aus den Tempeln des Asklepios zu verjagen ?


Ich bin wahrscheinlich ein Träumer: TEMPORA MUTANTUIR ET NOS MUTAMUR IN ILLIS.

Hippokrates: Adé !


Und doch glaube ich noch immer, dass das System nur durch eine Wiederbelebung dieser uralten moralischen Prinzipien einer humanistischen Tradition zu retten wäre. Alt ist ja nicht immer gleich Schrott !

Meine Frau Rosemarie ist Krankenschwester und hat viele Jahre auch in einem Altenpflegeheim gearbeitet; für die Motivation unseres Handelns haben Zeit und Geld niemals eine grundsätzliche Rolle gespielt. Dem Feilschen um Minuten oder Viertelstündchen bei den Arbeitszeiten stehen wir völlig verständnislos gegenüber.


NIL NOCERE ! z.B. Im Bemühen, nicht zu schaden, könnte man auch sehr viel Geld sparen. In den USA haben Forscher ausgerechnet, dass jedes Jahr circa 1,4 bis 4 Milliarden Dollar für die Behandlung von Arzneimittelnebenwirkungen ausgegeben werden müssen – (abgesehen von den mehr als 100.000 Toten, bei denen nur noch Beerdigungskosten anfallen, welche ja von den Angehörigen zu tragen sind). Auch hier könnte man viel Geld sparen. Allerdings müsste die Bereitschaft der Ärzte, Risiken zu ertragen, gefördert werden. Und dies wäre auch möglich durch ein langsames Fortschreiten in der uralten Kunst des Heilens.

Der medizin-technische Fortschritt hat hiermit überhaupt nichts zu tun. Dieser liefert nur Werkzeuge, welche man benutzt und wieder zur Seite legt. Die Souveränität des Arztes bleibe hiervon unberührt !


Im jüngsten Deutschen Ärzteblatt (Nr. 14) ist ein Artikel nach meinem Geschmack; natürlich auch berufsbedingt. „VERWALTUNGSSEKTIONEN. DRINGENDE NOTWENDIGKEIT.“ Von den Rechtsmedizinern B. MADEA, K. PÜSCHEL, E. LIGNITZ und R. DETTMEYER. Es wird überzeugend dargelegt, dass die Qualität der medizinischen Versorgung ganz wesentlich auch von der Obduktionsfrequenz der Verstorbenen abhängt.

Daß weniger als 10 % der Verstorbenen in einer Universitätsklinik autoptisch untersucht werden, ist in meinen Augen eigentlich ein Skandal. „Tote haben keine Lobby“ – heißt ein lesenswertes Buch von Sabine Rückert. Auch diese Misere darf man nicht allein den Ärzten anlasten. Die Rechtsmediziner konstatieren: „Was in Deutschland – etwa im Gegensatz zu Großbritannien . fehlt, sind der politische Wille und die Bereitschaft, im allgemeinen Interesse liegende Regelungen zum Obduktionsrecht umzusetzen.“ (p.B 781)

Auch dieser Artikel wird vermutlich nur von denen gelesen, die das eh’ schon wissen. Die große Öffentlichkeit erfährt davon nichts. Die „story“ ist nicht medienwirksam. Mit dieser traurigen Leichengeschichte bekommt man keine Einschaltquoten, i.e. offenbar das einzige Qualitätsmerkmal eines Medienspektakels.


So – jetzt habe ich mir einiges von der Seele geschrieben – und jetzt höre ich auf. Die Verpflichtung, täglich etwas zu Papier zu bringen war nicht ohne Stress – aber Eustress, meine ich. PER ASPERA ... Wer aber weiß schon wohin ? Es hat mir Freude gemacht; und vielleicht hat sich für meine Sätze wenigstens ein Leser gefunden, den meine Gedanken berührten wie ein Vogel, der sich niederläßt auf einem schwankenden Zweig – um bald wieder davonzufliegen.


„Ein jeder, geboren unter den zwölf Zeichen des Sternenhimmels, und ein jeder, mit ihnen in Beziehung stehend, mit ihnen verwandt oder verbunden: mögen alle ein langes Leben erfahren.

Möge da immer eine heilsame Entwicklung sein, sowohl auf den Wegen der spirituellen Entwicklung als auch in materiellen Lebensgrundlagen. Mögen alle eine authentische Gegenwärtigkeit leben, in Würde, ausgestattet mit glücklichen Umständen und so ein Leben in Harmonie verbringen, in dem diese Wünsche sich erfüllen.“

(Text auf tibetischen Gebetsfähnchen in meinem Arbeitszimmer).


Nun – bis - wer weiß schon wann ? verbleibt Ihr Jürgen Bohl