Von der GNADE des SEINS

Von der Gnade möchte ich heute schreiben,

von der Gnade des Seins,

von der Gnade des Seins des Erinnerns;

denn: Sein ist Erinnern.

Gestern tauchte in meinem Text die Gnade auf: „Das eben finde ich so wundervoll, dass kein Tag vergeht – um im alten Stil zu sprechen – ohne irgendeine verkannte Gnade.“ – sagt Winnie in „Oh les beaux jours“ von Samuel Beckett (Glückliche Tage).


Ist das nicht seltsam ? Ausgerechnet bei Beckett wird von Gnade gesprochen. Er lässt alle warten; Godot kommt wahrscheinlich niemals ! Im Endspiel wirft man den Alten – in Mülltonnen hockend – gelegentlich einen Zwieback zu. „Auf den Müll mit ihnen !“ wird gedroht. Und Winnie – von Beweglichkeit träumend (sie steckt fest in einem Erdhügel) – spricht von Gnade, die man verkennt.

Welche Bedeutung kann dieser Begriff haben in einer Welt, die sich ihrer Diesseitigkeit rühmt ? Wie soll man fühlen, dass man in der Gnade lebt, ohne jemanden denken zu müssen, der sie gewährt ?


Müssen wir auf den Begriff, und damit auf die Gnade selbst, vollends verzichten ? Ich suche nach einem anderen Zugang. Begriffe sind nichts anderes als Werkzeuge, mit welchen wir versuchen, unsere Wirklichkeiten zu begreifen. Im Grunde aber erschaffen wir mit unseren Begriffen andere, neue, ganz eigene Wirklichkeiten.

Der Begriff HOLON ist in diesem Zusammenhang sehr hilfreich. Er stammt von Arthur Koestler (1964) und meint die seltsame Eigenschaft von Dingen und Wesen, ein Ganzes und ein Teil gleichzeitig zu sein; als Ganzes relativ unabhängig und eigenständig, als Teil aber einem größeren, höheren Ganzen angehörend.

Es gibt nichts, was nicht ein HOLON wäre !

Ken WILBER hat in seinem Buch EROS KOSMOS LOGOS sehr ausführlich über Holons und ihre besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten geschrieben. Jedes Ganze kennt den Zusammenhang der Holons der nächsten, niedrigeren Stufe. Es weiß die Aktivitäten der teilhabenden Holons zu koordinieren und etabliert den Rahmen einer holarchischen Ordnung. In einem harmonischen Ganzen stellen die einzelnen Teile ihre Eigeninteressen hintan und erfüllen so den Sinn des größeren Ganzen, wobei Sinn allein aus der Erkenntnis von Verbundenheit entsteht (Erich JANTSCH). Verbunden sind Holons miteinander in drei verschiedenen Richtungen: Mit anderen Holons auf gleicher Ebene und gleichzeitig mit untergeordneten und auch mit den übergeordneten Ganzen. Die Bedeutung der eigenen Existenz in einem höheren Zusammenhang kann nur näherungsweise geahnt werden; es ist einem Teil nicht möglich, den ganzen Sinn des Größeren völlig zu erfassen. Wohl ist die Bedeutung der niedrigeren Holons für die Existenz der zusammenfassenden Einheit zu erkennen; nicht aber der Wert der aufwärts gerichteten Zusammenhänge.

Und doch ist es wichtig, einen Sinn für diese aufwärts gerichteten Zusammenhänge zu entwickeln um offen zu werden für die Zuwendungen des höheren Holon. Die Kultivierung dieses Sinnes für Transzendenz erscheint mir eine der wichtigsten Aufgaben der gegenwärtigen kulturellen Entwicklung.


Am Beispiel unseres Körpers kann man diese etwas abstrakten Vorstellungen gut konkretisieren. Wir sind aus Zellen zusammengesetzt. Jede Zelle ist ein Holon und unter Umständen auch in der Lage, allein zu leben, in einer Kultur z.B. (in vitro). Jede Zelle aber unterwirft sich in einem gesunden Organismus der Funktion des nächsten höheren Holon, des Organs , e.g. der Leber. Auch dieses Organ kann für sich genommen durchaus einmal einen Funktionswandel erfahren, wenn es transplantiert wird. Normalerweise erfüllt sich die Existenz eines Organs gemeinsam mit anderen Organen innerhalb der Gesamtfunktion des Individuums.

Eine einzelne Zelle ist wohl nicht in der Lage, ihre Bedeutung in einem höheren Zusammenhang voll und ganz, lückenlos zu erfassen. Und dennoch weiß sie etwas von diesem Zusammenhang. Nur auf dem Boden dieses Wissens vom Ganzen ist sie bereit und in der Lage, ihre Aufgabe zu erfüllen. Die Basis ihrer Funktion ist ihr Wissen vom Ganzen. Andererseits ist auch die Existenz des Ganzen bedroht, wenn das Wissen der Teile vom Sinn des Ganzen ungenügend ist. Unwissenheit ist auch auf dieser Ebene eines der Grundübel schlechthin.

Die Funktion des Ganzen wird optimiert durch die liebende Zuwendung eines Holon zu seinen Teilen.

Wenn man in Dankbarkeit seiner Organe und Zellen gedenkt, werden diese es durch Wohlverhalten lohnen, auch wenn sie nicht alles verstehen können.


Gleiches gilt auf den Ebenen des Individuums, der Familie, der Gesellschaft, der kulturellen Gemeinschaft und letztlich auch auf der Ebene der Gemeinschaft aller Lebewesen hier auf Erden.

Die Dankbarkeit, die man seinen gleichrangigen und niedrigeren Holons entgegenbringt kann von diesen zwar wahrgenommen, aber niemals ganz verstanden werden. Dieses partielle Unvermögen, das höhere Ganze zu begreifen, ist ein Wesenszug der Gnade.

Voraussetzung für die Erfahrung der Gnade ist die Kultivierung des Sinnes für Transzendenz.

Gnade wird gewährt, wenn das Bedürfnis nach ihr erfasst wird. Die Erfahrung der Gnade folgt somit der partiellen Wahrnehmung der Verbundenheit mit der aufsteigenden Holarchie – bis hin zur mystischen Erfahrung des Höchsten, des kosmischen Bewusstseins.

Wie man selbst sich bewusst den niedrigeren Holons zuwenden kann, so vermag wohl auch die große ABSICHT sich uns zuzuwenden; und diese erfahrbare Zuwendung des Höchsten Ganzen: Das ist die Gnade, ewig unbegreifbar.

Wie sehr jeder einzelne gerade heute dieser Zuwendung bedarf, wird deutlich sichtbar, wenn man die brodelnden sozialen Konflikte betrachtet. Ich denke an die Ereignisse an der Berliner Hauptschule und an die bewegenden Proteste in Frankreich.

Doch hierzu später mehr. Für heute muß ich aufhören; Morpheus bedroht mich mit seiner Keule !


Mögen alle, die sich in wegloser, schrecklicher Wildnis finden –

Die Kinder, die Alten, die Ungeschützten, die Umnachteten-,

Von gütigen Himmlischen beschützt werden.


Bis bald verbleibe ich Ihr Jürgen Bohl