Vom Reden und Schweigen

Liebes Webtagebuch,


theologische Überlegungen faszinieren mich anscheinend. Da komme ich nicht los davon. Auch wenn ich sie für völlig überflüssig halte und ich mich deswegen generell als Agnostiker oute. Heute ist mir eingefallen, wie ein semiotisch-konstruktivistisches Testament aussehen müsste. Also bitte sehr:


Am Anfang war nicht das Wort, sondern das Staunen. Das Staunen bezog sich auf das, was nach dem Anfang war und was die Menschen um sich herum mit ihren Sinnen wahrnahmen. Nach dem Staunen kam der Zweifel. Dann erst kam – durch wen auch immer – das Wort und mit dem Wort kam die Bezeichnung der Wirklichkeit. Mit dem Wort und der Bezeichnung der Wirklichkeit kam der Anspruch in die Welt, das scheinbar Wirkliche Wahrheit zu nennen. Mit der Wahrheit kam auch der Anspruch auf die einzig wahre Wahrheit in die Welt, die zu besitzen zu mindestens einige behaupteten. Mit der Wahrheit kam aber wieder auch der Zweifel über das ursprünglich Bestaunte, Bezweifelte und nun mit Wörtern Bezeichnete in die Welt und der Zweifel richtete sich genau gegen diejenigen, welche die Wahrheit für sich gepachtet zu haben schienen und mit ihrer Wahrheit und ihren Definitionen und Zuschreibungen nun die anderen unterdrückten oder es versuchten. Denn mit Wörtern konnte man alles bezeichnen und es war bald klar, dass Wörter nicht etwas absolut Gegebenes sind und dass Dinge nicht einfach nur so heißen wie sie nun einmal heißen. Und so erkannte man, dass man Wörter durch andere ersetzen, Dinge auch anders bezeichnen und Bedeutungen auf diese Weise in größerer Weise konstruieren konnte, als man es bisher für möglich gehalten hatte. Die Welt war plötzlich unglaublich kompliziert, widersprüchlich und chaotisch geworden und viele – vor allem jene, die immer von der Wahrheit gesprochen hatten – glaubten sie dem Verfall nahe, weil das Wort so relativ geworden war. Und je näher die Wahrheitsbehaupter den Verfall sahen, umso mehr bemühten sie sich, diese ihre Wahrheit den Menschen mit allen Mitteln näherzubringen. Mit allen Mitteln! So nahe, dass kürzlich sogar jemand, der eigentlich nicht zu den Wahrheitsbehauptern gehört hatte, gemeint haben soll, dass, worüber man nicht sprechen könne, man lieber schweigen solle.


Bis morgen werde ich also schweigen und im Ausblick darauf kann ich Ihnen die Exkursion in das aktuelle systemische Leben eines Musikerziehers ankündigen, der derzeit in einem Schulsystem von vorgestern tätig ist.