Vom Flüchtlings-Dilemma zum -Tetralemma?

In den letzten drei Tagen habe ich mit Gunther Schmidt, langjähriger Mitstreiter an der systemischen Front (vielleicht keine so gute Metapher, aber lassen wir das mal), ein Seminar veranstaltet. Wie in diesen Zeiten kaum zu vermeiden, kam die Diskussion auf die Situation der Flüchtlinge zu sprechen. Was kann man den politischen Akteuren raten, wie sie mit der Situation umgehen sollen, die als unlösbares Dilemma erlebt wird?


Auf der einen Seite kommen die Flüchtlinge und alle Mauer- und Stacheldrahtbauten werden das nicht verhindern können, angesichts der Lage im Nahen Osten, aber auch in Eritrea und anderen afrikanischen Staaten, deren politische Systeme wenig attraktiv sind. Wir können, so viel ist klar, nicht alle nehmen. Auf der anderen Seite stehen die im Grundgesetz und im Namen der europäischen Leitkultur viel beschworenen christlichen Werte, aus denen u.a. das Asylrecht resultiert, das keine Obergrenze kennt. Eigentlich müssten wir alle aufnehmen, die in Not sind.


Es kommen natürlich noch andere Dilemmata hinzu: Der demographische Wandel sorgt jetzt schon, in absehbarer Zeit aber noch mehr, dafür, dass es in Deutschland, Österreich und der Schweiz einen Mangel an Arbeitskräften gibt. Auf der anderen Seite wird der durch die Zuwanderung von Analphabeten aber nicht wirklich behoben usw... Politisch verfolgt sind eben nicht nur Hirnchirurgen.


Mir scheint, dass die Konflikte, die im Moment auf der politischen Bühne ausgetragen werden, nicht so sehr um die zu erreichenden Ziele ausgetragen werden, sondern um die Wege, die zu beschreiten sind. Dadurch entstehen, wie ich denke, Scheinkonflikte bzw. die "falschen" Konflikte, nämlich Streit über Wege, die zu beschreiten sind, obwohl man sich über die Ziele durchaus einigen könnte.


Zuwanderer sind ja nicht an sich ein Problem, sondern die Angst, die in Teilen der Bevölkerung durch sie ausgelöst wird, ist das Problem. Im Idealfall müsste eine Lösung jenseits des binären Konflikts Reinlassen vs. Raushalten (erinnert ein wenig an den Mainzer Karneval: "Wolle mer se rin lasse?") eine Sowohl-als-auch-Charakteristik aufweisen; aber nicht nur im Sinne des sowohl Reinlassens als auch Raushaltens (z.B. Asylberechtigte rein, "Wirtschaftsflüchtlinge" nach dem Bedarf des Arbeitsmarktes rein oder raus), was m.E. noch immer auf der Ebene des Weg-Konfliktes bleibt, sondern wir müssten auf die Ziele schauen. Wie könnte eine Lösung aussehen, die dem Ziel = Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung gerecht wird, ohne Europa einzumauern?


Die Demonstrationen und brennenden Asylanteheime sind ja wahrscheinlich Ausdruck der Angst vor oder um was auch immer, und das heißt, der Angst, die eigene Sicherheit zu verlieren.


Dazu ist anzumerken, dass Sicherheitsbedürfnisse ja eh immer nur aufgrund von Sicherheitsfiktionen zufrieden gestellt werden können, denn es absolute Sicherheit nicht gibt; es reicht aber das Vertrauen in die Maßnahmen zum Erhalt der Sicherheit herzustellen.


Trotzdem ist, wie es in der Organisationstheorie so nett heißt, Unsicherheitsabsorption gefragt. Das wird (zumindest in Organisationen, aber auch auf der politischen Ebene) z.B. durch (1) die Funktion von Hierarchie möglich: der starke Mann oder neuerdings die starke Frau wird gerufen. Das ist der Grund, warum Herr Orbán und die Pis-Partei in Polen oder Frau LePen in Frankreich usw. so attraktiv erscheinen.


Kultur (2) als Mittel der Unsicherheitsabsorption, d.h. Vertrauen in die Befolgung ihrer Regeln, funktioniert nicht, wenn Leute aus anderen Kulturen aufgenommen werden, d.h. nach Köln erscheint offenbar vielen Leuten die Verlässlichkeit der Erfüllung sozialer Konventionen nicht mehr gegeben. Wenn auf die Kultur als Mittel der Unsicherheitsabsorption und Identitätsabsicherung nicht mehr zuverlässig gebaut wird, steigt die Unsicherheit.


Bleiben also noch (3) Personen und (4) Programme, um die Unsicherheit zu beseitigen.


Im Einzelfall, wenn man einen konkreten Zuwanderer als Person näher kennt, dann kann dies bei den betreffenden Menschen die Unsicherheit diesem konkreten Menschen gegenüber nehmen. Er kommt aus der Anonymität der Masse heraus und wird als Individuum greifbar. Aber das ist ja nicht ohne weiteres multiplizierbar. Oder vielleicht doch: Wenn man jedem, der neu nach Deutschland kommt, so etwas wie einen Mentor, einen Paten, einen (freiwilligen) persönlichen Betreuer an die Seite stellen würde, der ihm im Alltag helfen würde, sich in die neue Kultur zu integrieren. Es würden sich auch emotionale Bindungen entwickeln, die immer besser als alle Kontrollversuche dafür sorgen, dass Unsicherheit beseitigt wird. Bei 85 Millionen Einwohnern und ein oder zwei Millionen Zuwanderern bräuchte man halt ein oder zwei Millionen Freiwillige (und eventuell auch noch Infrastrukturen, die für deren Supervision und Unterstützung sorgen)...


Bleibt als letztes Mittel der Unsicherheitsbsorption die Etablierung von (4) Programmen. Wie die aussehen müssten (wahrscheinlich ja wirklich Sprachunterricht, Arbeitsbeschaffung, Curricula und Ausbildungsgänge verschiedener Art u.ä.) weiss ich nicht, aber da könnte man sich bestimmt was Intelligentes ausdenken...


Das Bedürfnis nach Sicherheit, so scheint mir, dürfte der gemeinsame Nenner, das gemeinsame Ziel, sein, das syrische Flüchtlinge und deutsche Provinzbewohner miteinander verbindet: Die einen verlassen eine unsichere Heimat, die andere wollen eine sichere Heimat bewahren. Wie kann man aus einem vermeintlichen Nullsummenspiel ein Nicht-Nullsummenspiel machen?


Ich denke, wir sollten hier einen Ideenwettbewerb eröffnen. Dabei scheinen mir im Moment die kurzfristigen Lösungen interessanter als die langristigen "Ursachenbeseitigungs"-Ideen, um den - und das ist kein Schmäh - im Moment bedauernswerten politischen Verantwortungsträgern zur Seite zu stehen, die dringend Ideen jenseits der simplifizierenden Entweder-oder-Schemata brauchen, um handlungsfähig und wählbar zugleich zu bleiben.