Violence is Love

Gestern, getrieben und gebissen von Rückenschmerzen und Zeitproblemen, habe ich vom Teppichboden aus mein Thema im Stakkato durchgepeitscht. Heute sitze ich, nicht dank Yoga, sondern dank IBUPROFEN, wieder am Laptop - ständig in Bereitschaft, dass wilder Schmerz mich zwingt, am Boden kugelnd, zwischen *Krokodil, Fisch, Katze und Janu Shirshasana*, weiter zu schreiben und das mittlerweile mit leicht irritiertem Magen.


So, wie in dieser Woche, würde ich auf Dauer nicht arbeiten wollen oder auch nur können, es macht mir eher Stress und Mühe, täglich etwas Neues, Lesbares, was mir inhaltlich gelungen und stilistisch auch langfristig entsprechen würde, zu produzieren, erst recht unter den verschärften Bedingungen eines Hexenschusses.


Ein unsanfter Hinweis, dass ich mich überhaupt nicht für Schnellproduktion und nicht dafür eigne, stundenlang hinter dem Bildschirm zu hocken. Ich brauche, was die Seele betrifft, Auslauf und Muße abseits des Laptop. Meine Kreuzschmerzen, sind meine Wachhunde, die ständig auf der Lauer liegen, besonders, wenn ich mich längere Zeit nicht bewege, und wie ein chitingepanzerter Käfer am Laptop mich einkrümme und versteife, Kreuzschmerzen, die ich fürsorglich im Griff habe, wenn alles normal läuft, wenn ich trainiere, laufe, Yogaübungen mache, begleiten mich schon seit meinem 33. Jahr. Seit damals weiß ich, dass nur ständige und gezielte Bewegung sie dauerhaft befriedet. Normalerweise bin ich also geübt, sie zu bändigen. Aber manchmal reitet mich eben der Teufel und ich verharre, trotz dieses Wissens, mit größter Blödigkeit stundenlang und tagelang unbeweglich am PC.


Wenn ich nicht besessen von der Erforschung von faszinierenden Zusammenhängen wäre, wenn ich nicht an der Konzeption eines zweiten Bandes wäre, wenn nicht die ständig zunehmende Betreuung meiner Mutter wäre, würde ich Aikido zu meiner absoluten, obersten Priorität machen. Ich würde täglich trainieren. Dann könnte ich innerhalb eines Jahres den 1. Dan machen. Man kann sich intensiv auch allein damit befassen, die Schwert-Katas und Suburis zu Hause üben, dass ein paar Stunden wie im Flug vergehen. So aber ist es so, dass ich auf Grund dauerhafter familiärer Umstände und zunehmendem Hin- und Herreisen, und des komplizierten Abschlusses meines Buches, ich im vergangenen Jahr nur wenig trainieren konnte. Das empfinde ich als Verlust und schade und hoffe, dass es auch wieder anders wird. Ich wünsche mir die innere Freiheit für eine kommende ruhigere Zeit in welcher ich meine Prioritäten (Mein Beziehungsleben, mein Schreibleben, mein Aikido) harmonisch und ausgewogen leben kann.


Trotzdem ist es für mich erstaunlich, dass gerade in den aufgezwungenen Trainingspausen, alles was sich in den letzten Jahren an Informationen (körperlichen, wie geistigen) in mir zusammengepresst hat, nun jetzt, wo ich wenig trainiere, in mir sich ausdehnen kann. Das spüre ich, wenn ich im Training bin, es ist das schöne Gefühl, des im Aikido zu Hause seins. Ich empfinde große Dankbarkeit es tun zu können, noch dazu in einer so erfreulichen Atmosphäre. Auf unserer Homepage kann über diese Atmosphäre, Etikette und die Geschichte des Aikido, über persönliche Erfahrungen, die dort in einfacher, klarer und verständlicher Weise aufbereitet sind, nachgelesen werden. Außerdem mein Artikel über das Schwert. Wer in der Nähe lebt, kann uns in unserem Dojo, das als freistehende, gelb gefärbelte, Jugenstil-Halle, parterre, mit Schwingboden und schönem Gebälk, mitten in der grünen Wiese steht, gern besuchen. Täglich 18-20h.


In den letzten drei Jahren, und besonders im letzten, seit sich das Zusammengepresste in mir ausdehnt, denke ich öfter daran, was es bedeutet, dass der Begründer O Sensei Aikido, aus persönlicher Erfahrung und mit Absicht, als Weg des Friedens propagierte.


Tony Cassells Sensei (6.DAN und Schüler von Chiba Sensei), unser britischer Shihan, der mit den Mitgliedern seines Dojos vier Mal im Jahr bei uns zu Gast ist, lehrt Aikido dezidiert unter diesem Aspekt und das ist die hier bereits mehrfach angesprochene Paradoxie der Praxis, wie sie im Titel des heutigen Beitrages angesprochen ist, nämlich in folgendem paradoxem Diktum:


„Du musst zuerst töten, also Leben nehmen, um Leben (zurück) zu geben.“


Da zieht jetzt jeder die Braue hoch.


Doch allein dieser Satz erklärt das, was an einer Kampfkunst friedlich sein kann. Du musst lernen, dazu fähig zu sein, deinen Angreifer, der mit seinem Angriff Unfrieden stiftet und dein Leben in Gefahr bringt, selbst in eine lebensbedrohliche Lage zu bringen. Das heißt du musst, und zwar von Anfang an, die unbedingte Bereitschaft haben, ihn zu töten. Erst in dieser Lage wird er nämlich, nach den Gesetzen der Physik und Psychologie, bereit sein, die Aussichtslosigkeit seines Angriffs und seiner Lage einzusehen, nämlich dann, wenn sein eigenes Leben bedroht ist.


Diese (Samurai)Bereitschaft ist das wesentliche Motiv beim Training.

Sie umfasst Todesmut und Lebensmut in einem. Dies ist nicht nur eine Metapher, sondern innere Haltung, die auf viele andere Situationen des Leben angewandt werden kann: Die ständige Bereitschaft zum Äußersten. Die ständige Bereitschaft sein Bestes zu geben.


Hier ist das Motiv der Selbst-Behauptung, der Selbst-Verteidigung unter dem Aspekt angesprochen, dass ich dazu ausgebildet sein muss. Je besser ich darin ausgebildet bin, je besser ich überhaupt und ganz allgemein ausgebildet und also gebildet bin, je stärker und sicherer ich mich bewege, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ich angegriffen werde. Desto friedlicher und friktionsfreier meine Kommunikation. Das ist eine alte Weisheit. Aber haben wir sie noch dabei?


Außerdem, wer kann schon eine solch elitäre, heroische Lebenshaltung tatsächlich durchziehen?

Wie sieht ein solches Konzept in der Politik oder im Beziehungsleben aus?


Um fähig zu sein, sich selbst gegenüber oder einem anderen gegenüber zu behaupten, muss man Tugenden und Werte vorgelebt, erfahren und auch selbst geübt haben, um sie sicher bei sich zu haben und auf sie zurückgreifen zu können. Das gilt nicht nur für das Individuum, den Humus jeglicher Politik, sondern auch für den Politiker.


Es ist doch komisch, dass wir uns jetzt plötzlich auf Werte besinnen wollen und nach solchen suchen. Safranski empfahl dafür Hans Joas, *Die Entstehung der Werte*, Sloterdijk empfahl Friedrich Nietzsche, *Die Genealogie der Moral*.


Bei Nietzsche geht es noch um die Umwertung der Werte. Was, wenn wir im Westen gar keine mehr haben, weil Aufklärung darüber aufklärt gar keine zu benötigen? Sind Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit schjon Werte? Warum übrigens sollte ein „Ehrenmord“- das worüber sich unsere freie Presse am meisten erregt, etwas Untragbares sein? Er ist, dort wo er herkommt, unter Umständen auch ein „Wert.“ Warum setzen wir unsere Werthaltungen nicht weit, weit früher an, nämlich bei der würdigen Unterbringung und Ausbildung derer, die wir eingeladen haben, in unsere Länder zu kommen und bei der klaren, öffentlichen Kommunikation mit diesen über *unsere* Werte?


Wir rekurrieren auf „Menschenrechte.“ Gut, schön und scheinbar westlich edel, aber eigentlich nur eine Fassade der Freiheit. Der Freiheit von Bildung nämlich. Hinter ihr verbreitet sich Unfreiheit, Zwanghaftigkeit, Orientierungslosigkeit, Beliebigkeit und Verwahrlosung, die wir verblendet als Segnungen oder gleichgültig als nicht ablehnbare Früchte der Aufklärung hinnehmen.


Wir haben Toleranz gepredigt, der am meisten breit getretene "Wert" überhaupt, jetzt kommen wir öffentlich drauf zu sprechen, dass diese Toleranz nur Gleichgültigkeit war.


Wir treten für die Pressefreiheit ein, als ob es ein Verdienst wäre, jeden Unsinn zu veröffentlichen, alle Nachrichten mit der gleichen Wertigkeit zu betrachten, Hauptsache es sind Nachrichten und unser Empörungsbedarf wird befriedigt. Die scheußlichsten, grauslichsten, absurdesten Dinge, die auf der Welt passieren, um nur ein Beispiel zu nennen, die Nahrungsmittelproduktion, das womit wir uns täglich ERNÄHREN, was wir fraglos in unseren Körper aufnehmen und alles was in der Welt damit zusammenhängt, Abholzung des Regenwaldes usw. gehen beim einen Ohr herein und beim anderen heraus. Wie wir damit umgehen, bleibttatsächlich unbeachtet, passiert in einem Raum abseits der Aufmerksamkeit, ganz neben uns und ganz weit weg von uns. Dasselbe gilt von diversen Machenschaften wie Genmanipulation oder Tiertransporten, u.v.a.m. die schockierend sind, die eigentlich niemand sehen und hören will, die trotz Pressefreiheit, sich ganz und gar ungehindert ereignen. Wozu dann Pressefreiheit? Nur um öffentlich mutmaßen zu können, ob Bush jetzt den Iran angreifen wird oder nicht? Die USA werden den Iran angreifen, wenn ihre Interessen vom Iran angegriffen werden! Sie hat es mit dem Irak so gemacht und die Presse hat ein Geschäft daraus machen können.


Die öffentlichen TV-Sender beginnen haarsträubend oberflächliche, hilflose, uneindeutige Diskussionen darüber zu führen, wie die „Mehrheitsgesellschaft“ und die „Minderheiten mit Migrationshintergrund“ zusammenleben sollen.


Aber ist es nicht eigentlich eine rein konservative Frage, die sich uns stellt? Nämlich die Frage, wie die Mehrheitsgesellschaft und ihr Staat, seine Verpflichtung zum rationalen Handeln wahrnimmt und sich gegenüber den Minderheiten mit Migrationshintergrund behauptet?


Selbstbehauptung heißt hier, Werte zu haben und diese zu artikulieren. Es heißt entschieden die Initiative zu ergreifen. Es geht darum konstruktiv zu handeln, die gemachten Fehler auszusprechen, sie vor dem Hintergrund der Werthaltigkeit der Mehrheitsgesellschaft zu diskutieren und zu analysieren, die gegenseitige Kommunikation zu fordern und zu fördern, der Pflicht nachkommen, nämlich sich zu verpflichten, alle Betroffenen (- beider Seiten - ) in die völlig selbstverständliche Pflicht zu nehmen und für die notwendigen Kosten aufzukommen.


Ich bin mir bewusst, dass die Orientierungslosigkeit, der wir uns hingegeben haben und die mit unserer Vergangenheit zusammenhängt, auch damit zusammenhängt, dass wir uns lieber keine Ordnung und Werte mehr zumuten, als dass es womöglich die falschen ist.


Umso wichtiger erscheint es mir, dass ich als Individuum, mir meiner Verantwortlichkeit für die Welt, wie sie ist, bewusst bin und die Notwendigkeit erkenne klare Handlungsmaximen und kulturelle Werthaltungen zu entwickeln, weil es um ein reelles, gerechtes, offenes, ehrliches Zusammenleben geht, das die unterschiedlichen Ansprüche anerkennt und ihnen nach Maßgabe rationaler Übereinkünfte unaufgeregt gerecht wird.


Eigentlich jedoch ist der notwendige Aufmerksamkeitspegel viel früher und näher, nämlich bei den persönlichen Beziehungen anzusetzen:


Wir müssen schon hier Selbstdistanz erlernen und die richtige Distanz zum anderen finden, um die verschiedenen Möglichkeiten von Nähe erschaffen zu können und um uns notfalls behaupten zu können. Eigentlich für alle Arten von Beziehung erscheinen mir die Voraussetzungen der Martial Arts relevant, auf denen alle Techniken des Aikido beruhen:


*right distance, movement, connection* und *timing*:


Es bedeutet den richtigen Abstand zu sich selbst (Selbst-Transzendenz) zu finden und damit den richtigen Abstand zum Gegenüber einnehmen zu können. Beweglichkeit bedeutet das persönliche Training von Eigenschaften wie Empfänglichkeit für den Anderen, Wachheit gegenüber dem Anderen, aber eben auch die Fähigkeit, die „Linie des Angriffs“ umgehend verlassen zu können und die Energie eines Angriffs auf einen Angreifer privat oder öffentlich zurückwenden zu können. Verbundenheit bedeutet sowohl Verbindlichkeit im Frieden als auch das aufmerksame und wache Dranbleiben im Konfliktfall, statt die Flucht zu ergreifen oder in Gleichgültigkeit abzugleiten. Das richtige Timing ist in jeder Beziehung überhaupt von größter Bedeutung, Es heißt, dass ich mich gedulden muss, dass ich abwarten können muss, dass ich dem Anderen Zeit geben muss, dass ich mir selbst Zeit gegben muss, dass ich nahe genug an den Anderen herankommen können muss, um ihn angreifen, lieben oder mit ihm kommunizieren zu können – und das auch zeitlich im richtigen Moment.


– nicht zu vergessen die Etikette – die Form, welche der gegenseitigen Anerkennung und Wertschätzung den notwendigen Raum gibt.


Jeder Mensch hat einen souveränen Status und dieser muss anerkannt sein. Es ist mein Terrain, meine Grenze, die von den anderen anerkannt und respektiert zu werden hat. Verletzt einer diese Grenze, greift er mich an, werde ich mich verteidigen, werde ich ihn belehren, dass er damit auf dem falschen Weg ist, - wenn ich es denn gelernt und geübt habe.


Jeder kann, wenn er nicht anders kann, dieses sein Terrain durch die Welt tragen, und sich niederlassen, wo es ihm gefällt, Jeder muss sich dabei jedoch immer bewusst sein, dass sein Terrain, das Terrain anderer berührt, dass es ältere Rechte, religiöse Gegebenheiten und kulturelle Einrichtungen gibt, denen Respekt und Achtung entgegengebracht werden müssen und dass es immer eine Kultur ist, in welcher der Einzelne oder eine ethnische Gruppe gastliche Aufnahme findet, und kein anonymer Kiosk oder Selbstbedienungsladen an einem Durchgangs-Bahnhof irgendwo in der Welt.


Es "gibt" die Übereinkunft der „Menscherechte“ und die „Würde“, die unantastbar ist. Aber auf dieser Ebene handeln und verhandeln wir ja gegenwärtig eigentlich gar nicht. Wir bewegen uns einerseits in einem Raum der Unartikuliertheit berechtigter Ansprüche und andrerseits auf dem Boden der Nichtanerkennung von Ansprüchen, alles zusammen in einer Atmosphäre ziemlicher Verlogenheit.


Letztere resultiert daraus, dass wir ausgesprochen und unausgesprochen Haltungen der 68er Bewegung internalisiert haben, uns ihnen verpflichtet fühlen, obwohl diese sich oft als haltlos oder heute überzogen herausgestellt haben. Ich habe mich in den letzten 20 Jahren von vielen Aspekten dieses Gedankengutes distanziert, ich gehöre keiner Partei an und fühle mich keiner zugehörig, ich bin links zu Hause, aber angesichts der Entwicklungen einem Werte-Konservativismus zugetan und ich plädiere politisch für eine starke (gemeinsame) Mitte, die den Mut hat (gemeinsam) die Dinge beim Namen zu nennen und notwendige Veränderungen anzupacken, statt aus Kalkül und Gleichgültigkeit weiter Lügen aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel die Lüge der Schaffung von Arbeitsplätzen für jeden, owohl die Wirtschaft über etwas völlig anderes spricht.


Ich habe hier über Aikido geschrieben und wollte dabei herausfinden welche der Qualitäten dieser Kampfkunst, die auf Frieden abzielt, sich in normale zwischenmenschliche Beziehungen und in die Politik übersetzen lassen.


Die Philosophie des Aikido, sein Handlungs-System, die Paradoxie seiner Praxis (*Violence is Love*: *Leben nehmen, um Leben (zurück) zu geben*) geben mir, neben meinen christlichen Werten und meinem aufgeklärten, kulturellen Hintergrund, Gedanken an die Hand, die ich zunehmend bereit bin, auch auf ihre Tragfähigkeit und Handlungstauglichkeit zu überprüfen.


Das Ziel im Aikido ist die Automatisierung und Konditionierung des Körpers und sämtlicher Techniken, um sie je nach Bedarf und Situation völlig kreativ, frei und effizient als Selbt-Techniken anwenden zu können.


Für mich heißt dies, die Welt, so wie sie ist, anzuerkennen undin dieser Anerkennung dessen, was ist, den Ansatz für eine konstruktive Haltung zu finden, die die Möglichkeit des Andersseins immer miteinschließt.


Was mich seit ein paar Jahren dabei am tiefsten beschäftigt ist der philosophische und handlungspraktische Hintergrund der Frage, was es für uns und unser Denken, Sprechen und Handeln bedeutet, herauszufinden, dass wir für die Welt, wie sie ist, auch als Individuum, absolut und vollkommen verantwortlich sind.