Vergangenheitsverändernde Gegenwart

Heute möchte ich eine verspätete Antwort oder einen Beitrag zu Thomas Keller und Sylvia Taraba (8.12.) schreiben.


Mein Vater hatte den alten Diaprojektor in seinem großen Bett auf drei Simplicissimusbänden aufgebaut, dort wo links und rechts unsere Beine lagen, sonst war es nachtschwarz im Zimmer. Den Lichtstrahl sah man kaum, nur die Kriegsbilder an der Wand gegenüber. Mein Vater erzählte, stockend, ganz unsicher, probierte Worte aus. Es war ein besonderer Abend. In dieser Zeit war ich normalerweise Trapper, und meine Freunde waren Indianer. Mein Vater erzählte vom Krieg, die Bilder auch. Eines der Bilder zeigte nicht nur einfach Tote und Explosionen oder sowas, sondern drei Männer, die schier intakt über dem Rand eines Schützenlochs lagen als ob sie schliefen. Einer der Drei sei Werner, sein Bruder, sagte mein Vater. Und ich hatte immer noch geträumt, der könnte doch noch mal plötzlich wieder kommen. Ich entfernte mich innerlich von meinem Vater, weil er erschreckend anders war als ich, weil er sich in solchen Kämpfen nicht behaupten konnte, weil er sie zuließ, weil er nichtmal seinem Bruder hatte helfen können. Er war eben ein unpolitischer Mensch, wie ich später formulierte. Das war ein Scheiß-Krieg gewesen, ein Verbrechen, da hat mein Vater nie etwas beschönigt oder nicht gesehen. Damals rückte ich von ihm ab, auf eine Art, die er so wenig verstehen konnte wie ich selbst. Die zunächst wachsende Entfernung zwischen uns war von mir gefüllt mit Verachtung, die ich vorsichtshalber an die Stelle des eigentlichen Entsetzens getan habe.

Aber tief innen drinn war dieser Abend der Anker mit kräftigem Seil, an dem ich zu meinem Vater viele Jahre später zurückfand.

Der Vater meines besten Freundes war SS-Mann gewesen und ist dem Grauen auch nach dem Krieg nie entkommen. Sein Vater hat es fortgesetzt. Wirklich. Mein Vater nicht, ganz im Gegenteil. So brauchten mein Freund und ich viele Jahre, es waren Jahrzehnte, und unzählige Gespräche in unzähligen Nächten, bis wir uns dem Punkt gemeinsam spürbar annähern konnten, an dem die grauenhafte Schuld oder das bewundernswerte Sein unserer Väter soweit miteinander verschwommen sind, dass beides für unser Leben und die Verantwortung dafür kaum noch einen Unterschied macht. Das hat viel verändert für uns, gerade auch die Wahrnehmung unserer eigenen Vergangenheit.

Wir sind immer noch auf dem Weg. Dieser Punkt ist mir so kostbar, dass ich ihn mir am liebsten als eigentlich unerreichbar denke.


Herzlichst

Peter Schlötter