Vanuatu

*„Wozu soll ich mir das alles merken? Ich vergesse es doch gleich wieder.“* Kennen Sie diesen oder einen ähnlichen Satz, der seinen Benutzer sofort von lästigen Anstrengungen befreit? Oder den: *„Wozu soll ich mir das merken? Hauptsache ich weiß, wo ich es finde, wenn ich es brauche.“* Was für eine Vorstellung vom eigenen Gedächtnis haben Leute, die so reden oder denken? Schonung ist wichtig fürs Gehirn, Anstrengung schädlich, vermutlich. Dabei ist das Gegenteil richtig: Das Gehirn muss benutzt werden, um seine Leistungsfähigkeit zu erhalten oder womöglich noch ein wenig zu erweitern. Geschieht das nicht, verkümmern die nicht genutzten Fähigkeiten und Fertigkeiten wie ein Muskel, den man nicht durch Tätigkeit bei Leistung hält, sagt Adi. (Adi weiß Bescheid. Ich verdanke seine Existenz Ihnen, lieber Herr Holtz, der Sie letzte Woche so liebenswürdig eine nette Kollegin und insbesondere Ihre tolle Tante Klara immer wieder einmal zitiert haben.) Ein Vorschlag dazu:


Vielleicht haben auch Sie vor etwa vier Wochen in der Zeitung die kleine Notiz gelesen über eine Untersuchung der Lebenszufriedenheit der Völker dieser Erde und dabei wie ich erstmals von einem Inselvölkchen gehört, das die Forscher als das glücklichste Volk der Erde ausgemacht haben. Vanuatu heißt es und es lebt auf einer kleinen Insel in der Südsee. Was tun wir? Wir lesen diesen Begriff, denken ihn uns zu merken. Aber in kurzer Zeit haben wir ihn vergessen. Und nicht nur den Begriff. Wir vergessen, dass wir vergessen, wie wir bei Lernen 0 nicht denken, dass wir lernen. Das ist übrigens der interessante Aha-Effekt bei den beliebten Quizsendungen. Wir bekommen vier Begriffe zur Auswahl als Antwort auf die Frage, welches das glücklichste Volk der Erde sei. Haben wir das wenigstens einmal mit Bewusstsein wahrgenommen und ein einigermaßen funktionierendes Gedächtnis, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir die richtige Antwort finden. Ich will mir also das Volk der Vanuatu merken, aber nicht für Jörg Pilawa und Günter Jauch, sondern ganz allein für mich. Va-nu-a-tu, vier klangvolle Sprechsilben. Wie kann ich mir das zuverlässig merken? Ich stelle mir zu jeder der vier Silben ein einfaches Bild vor: Va- wie Vase, Nu- wie Nuss, A- wie Apfel und Tu- wie Tuba. Ich merke mit das Volk, das sehr zufrieden ist mit vier Dingen. Der **Vanuatu** braucht zum Glücklichsein nur eine Vase, eine Nuss, einen Apfel und eine Tuba – das Ganze stelle ich mir als schönes Stilleben mitten auf einer Südseeinsel vor.


Das haben Sie nun gelesen. Besser wäre es, Sie würden schlicht selbst diese Übung nachmachen. Dreimal im Geiste die Vase, die Nuss, den Apfel und die Tuba nebeneinander vor das geistige Auge gerückt – und schon sitzt das fremde Wort ziemlich dauerhaft (bis morgen) im Gedächtnis. Dann schauen sie einfach nach: Ist es noch da? Und so noch etwa zweimal. Nach drei Tagen haben sie es fest im Langzeitgedächtnis verankert. Bestimmt!


Adi spielt nun mit und meint, Sie sollen bloß keine Angst haben, Sie könnten bei all der Merktechnik Ihr Gehirn überlasten. Das sei ein wunderbares Gehirnjogging. Außerdem brauche man dazu ja weder eine Gerätschaft, noch Papier und Schreibzeug. Wenn ich nun morgens die Zeitung lese, zeigt Adi immer wieder auf einen komplizierten Begriff, den ich mir gefälligst mal merken soll. Das gibt mitunter lustige kleine Geschichten der Art: Der Professor sitzt auf dem Sofa mit einem Papagei auf der Schulter, der sogar nach Noten singen kann. Es handelt sich dabei um eine spezifische Wahrnehmungsschwäche, unter der immerhin rund 2 Prozent aller Menschen leiden. Sie können keine Gesichter unterscheiden und der Fachbegriff, um den es dabei geht, heißt **Prosopagnosie** (Professor, Sofa, Papagei, Noten, singen). Oder die folgende: Eine **Am**sel sitzt im **Bro**mbeerbusch und **si**ngt **a**nmutig und ich übersehe im Vorbeigehen hoffentlich nicht die sehr giftige **Aufrechte Ambrosie**, die **Ambrosia**, von der die Amsel sang. Das Fernsehen machte auf diesen Einwanderer aus dem Mittelmeerraum ebenso aufmerksam wie auf die aus Italien stammende **Cheiracantium punctorium**, die kleine Giftspinne mit dem deutschen Namen **Dornfinger**. Dazu merke ich mir die kleine Geschichte vom **Kai**ser, der mit einem **Ra**ben zusammen im **Kan**u den **Ti**ber hinab durch **Um**brien Richtung Rom schippert. Er unterbricht die Fahrt an einem Aussichts**punkt**, von dem aus er von fern die Stadt **Or**vieto **i**n **Um**brien erblickt. Dabei fängt er sich am Ufergebüsch einen **Dorn** im **Finger** ein. Das in der Zeitung mit den großen Buchstaben zur Todesspinne hochstilisierte Tierchen aus der Familie der Sackspinnen mit seinem roten Kopf und den hellen langen Beinen soll nicht halb so gefährlich sein. Wenn auch der Biss zu leichten gesundheitlichen Problemen führen kann.


Wozu soll ich mir solche Sachen überhaupt merken? Es geht nicht um das Merken und Behalten ganz bestimmter Inhalte, sondern darum, dass ich in der Lage bin, mir etwas zu merken, was mir dazu wichtig genug ist. Ich trainiere also nicht (in erster Linie) das Wissen selbst, sondern die Fähigkeit, jederzeit und überall ohne besondere Hilfsmittel mir neues Wissen anzueignen, das mir dafür wichtig genug ist. Das ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie vielleicht bald auch Sie *Lernen II* betreiben können. Die **Silbenbilder** (ein Fall von *Lernen III*) selbst sind, wie Sie nach wenigen selbstständigen Übungen für sich unschwer entdecken können, ein tolles Lernwerkzeug, das die Menschheit Gregor Staub verdankt. Vielleicht wollen Sie mal auf seine Homepage schauen: www.megamemory.com.

Es geht also nicht um das Merken und Behalten bestimmter Inhalte, sondern um das Merken und Behalten an sich. Trotzdem oder gerade deswegen kenne ich nun das glücklichste Völkchen dieser Erde beim Namen, die **Vanuatu**. Ich ernenne darum die Vanuatu zum Symbol für diese Methode, das Stilleben aus einer Vase, einer Nuss, einem Apfel und einer Tuba inmitten einer Südseeinsel. „Du Spinner!“, sagt Adi. Und er hat wie immer Recht. Aber lieber ein wenig ein Spinner als die wandelnde Vergesslichkeit, denke ich und lese aufmerksam Zeitung, damit ich meiner lieben Frau beim Frühstück etwas Nettes erzählen kann.