Utopie als Erzählung oder als Selbstdarstellung???

Lieber Herr Todesco,


ja ich weiß eh, dass Sie nichts über Herrn Simons Absichten/Ansichten sagen wollten. Mir gefällt Ihre Darstellung Ihrer Aufmerksamkeit und Ihr Konzept, formulierte Gedanken und Wünsche als Utopie zu lesen.


Genauso gefiel mir der kleine Austausch vom 9. April über Herrn Simons „Igitt, Finger überall“ versus Herrn Huckfeldts „ der Liebe des Kochs zur Zubereitung von Speisen“ wo es dann (möglicherweise) egal ist, wo die Finger überall drin und dran waren. Das wollte ich herausstellen. Da ich persönlich meist BEIDES nicht überprüfen kann, vertraue ich prinzipiell in meine körpereigene Immunabwehr und in die Liebe des Kochs.


Ihnen geht es, so lese ich, um positive Utopien/Geschichten. Dem konnte ich folgen und den tieferen Sinn davon verstehe ich vollkommen: Schon das individuelle Unterbewusstsein, lässt sich nur mit positiven Formulierungen steuern.


Wie man das MGDA auffassen oder lesen kann, darüber mag ich nicht streiten, im Sinne dessen, dass ich es verteidigen mögen würde. Ich habe aber die Gabe aus noch so negativ Formuliertem, Positives herauszulesen, - allerdings nur, wenn ich nicht gerade verärgert darüber bin.


Ich wollte mich mit dem MGDA beschäftigen und wollte, dass es hier bekannt wird, um einen radikaleren Parameter für politische Diskussionen zu haben, um daran meine/unsere konstruktiven, differenztheoretischen, systemtheoretischen u.a. Fähigkeiten im Umgang mit politischen Fragen zu überprüfen.


Während ich mich durch Abschreiben damit befasste, spürte ich eine große Ambivalenz von Zustimmung und Ablehnung im Bereich der Beobachtung erster Ordnung. Meine Zustimmung bezog sich auf mein Misstrauen gegenüber der Politik und der Rolle des Staates und deren durchaus feststellbaren fatalen politischen und ökologischen Laissez faire gegenüber der Wirtschaft und entsprechenden Manipulationen der jeweiligen Populationen . Meine Ablehnung bezieht sich auf das unverantwortete Chaos, das hier nicht etwa spontan, sondern mutwillig, angerichtet werden soll. Aber von wem eigentlich? Vom Kapital, vom Staat, von der Politik, von der Wirtschaft, von der Lohnarbeit oder vom MGDA?


ALL-Zuviel konkrete Auseinandersetzung mit der „Realität“ erster Ordnung finde ich also persönlich nicht Ziel führend, deswegen kann ich dem „Abperlen“ des MGDA bei Ihnen gut folgen. Das MGDA schildert ja eine „Realität“, deren Existenz sicher viele zustimmen. Sie wiederum können diese „Realität“ nicht sehen, wenn ich Sie richtig verstehe, oder wollen sie nicht sehen, weil es Ihnen Ziel führender erscheint, positiv zu formulieren (zu analysieren, zu unterscheiden). Weil, wenn ich sie richtig verstehe, jede Unterscheidung, Beobachtung, Analyse, die definitiv bezeichnet und ausreichend oft wiederholt wird, Tatsachen schafft. Warum also, aus Ihrer Sicht gesehen, nicht als Ziel führend empfundene Tatsachen verewigen?


Sie haben dem MGDA den Gedanken der positiven Utopie gegenübergestellt und deren je individuelle Formulierung für ausreichend erklärt. Für die Art und Weise wie Sie das tun, - nämlich beinahe Moral frei und ohne gröbere Anwürfe und in nur sehr verhaltener Ironie - bin ich Ihnen ernsthaft dankbar, da ich Ihnen dadurch besser folgen kann. Es fordert auch mich heraus, konkreter darüber nachzudenken, wie ich „ES“ gern hätte, besonders da „mein“ Leben in jeder Hinsicht so ist, dass ich darüber nicht klagen kann.


Allerdings will ich auch nicht klagen. Auch wenn mein Leben angeblich beklagenswert wäre, würde ich nicht klagen. Aus der Sicht anderer ist mein Leben vielleicht sogar durchaus beklagenswert? Ich wiederum kann umgekehrt kein anderes Leben beklagenswert finden.


Allerdings habe ich großes Mitgefühl mit anderen und denke durchaus, wenn ich auf den Wellen der glücklichen Inspiration navigiere, welche Unterscheidungen mir das erlauben. Ich achte die Würde jeden Schicksals, weil ich mein Schicksal als ein mir von meinem Selbst vorausgeschicktes Geschick sehen kann, das ich, in Kommunikation mit anderen, entwickle.


Wenn ich also nicht an der (wahrnehmbaren) Oberfläche bleibe, sondern mich tiefer in die Wirklichkeit der „Realität“ „hineinversetze“, beziehungsweise umgekehrt mich mittels der Kybernetik zweiter und dritter Ordnung aus der „Realität“ erster Ordnung „herausversetze“, dann sehe ich persönlich die verschieden Schicksale als Rollen in einem „Stück“, einem Konzept, einem Großen Passions-Spiel, die sehr ernsthaft (also auch schmerzhaft und blutig) und jedenfalls nachhaltig geprobt, gespielt, erprobt und kommuniziert werden. – Kommunikation und ihre Sinnprozessierung ist, so gesehen und so sehe ich es nun mal, die einzig wirk-lich/wirk-same Realität, die es gibt.


Ich sehe dann jenseits dessen, was wir uns - als Opfer der Verhältnisse, des Milieus, der Umstände, des Klimas, des Partners - für Bilder der „Schuldigen“ machen, dass wir deren Konstrukteure und Akteure sind.


Ich sehe, dass dieses Universum (ja das Ganze), das „WIR“, „DU“ „ICH“, unsere gemeinsame Konstruktion ist, nach Maßgabe dessen was wir darüber denken, sprechen, und ständig wiederholen - als performative Sprechakte zur Kreation von Welt.


DAS Leben und UNSER=MEIN Leben ist nicht „Gott“oder der „Evolution“ geschuldet, noch den Widersprüchen des „Kapitals“ unterworfen, auch wenn wir uns das alles ständig erzählen, sondern unseren eigenen Widersprüchen geschuldet und unterworfen, beziehungsweise den Dichotomien unseres Dualismus, mit dem wir uns die von uns geschaffen Welt erklären.


Die notwendige Oszillation von Leben/Tod, Alles/Nichts,usw. also von markiert/unmarkiert, bringt mit sich, dass (unser) Geist der Instantanität seines eigenen Widerspruchs in sich geschuldet ist, der umgekehrt (unsere) Unterscheidung ist und damit überhaupt erst (unser) Leben ermöglicht.


Ich denke nicht-dualistisch, sondern paradox.

Ich denke von der anderen Seite her und begreife das Unterscheiden und ihre Logik als mein Konstruktionswerkzeug und als Werkzeug zur Konstruktion von Welt. Von daher verstehe ich auch Ihre positiv-konstruktiven Motive. Dass Sie nämlich nur der einen Seite Aufmerksamkeit schenken und sie markieren und sie der anderen Seite, die ja stets (hier stumm) mitläuft, verweigern.


Doch führt der Effekt dieser praktizierten „Güte“, die man „Gott“ nicht zuschreiben wollte, noch will, ad infinitum betrieben nun dazu, dass das „Böse“ an sich selbst zu Grunde geht (...)? Und - geht damit nicht auch die „Welt“ zu Grunde, die ja (auch laut Ihrer Aussagen), keinesfalls langweilig sein darf....(???) Also geht es tatsächlich, so wie Sie es formulieren, um den „Weg“ der Güte?


Man erzählt sich eine von mir geschätzte praktische Sinti- oder Roma-Weisheit, die lautet „Tu nix Gutes, kommt nix Böses.“

Eigentlich besagt sie, dass man sich gütigst um sich selbst sorgen und kümmern soll...


Überrumpeln wir unser kollektives Unterbewusstsein, das mit der Negation nichts anfangen kann, mit positiven Formulierungen, um in dem Großen Spiel den Sieg des Guten immer wahrscheinlicher erscheinen zu lassen?...auf dass unsere Welt aufhöre zu bestehen, wie der Buddhismus angelegt ist, es uns beizubringen??? Oder sollen wir die Welt so sein lassen, wie sie geworden ist und dabei stets im Hier und Jetzt uns nach dem letzten Stand unserer Einsicht formulieren?


Ihr Konzept „Walden III“ klingt überzeugend, vor allem, da kein großes Aufhebens gemacht werden soll. Schlafende Tiger soll man nicht wecken, erst wenn der Käfig sicher um ihn herum gebaut ist, wird er dem Unternehmen nicht mehr schaden können. Da aber die Menschen so ungleich sind, wie man schon allein in diesem Blog sieht, wo ein Teil der Menschheit ausgeschlossen ist, obwohl er nicht ausgeschlossen ist, wo lauter „Gleichgesinnte“ kommunizieren, die sich gegenseitig ausschließen, ängstlich darauf bedacht, darin nicht missverstanden zu werden, nicht gleich, sondern eben ganz anders zu sein, als der andere, hege ich meine Zweifel, ob der böse kleine Tiger nicht erwacht, bevor der Riegel seinem erwachenden Raubtier-Ich vorgeschoben werden kann.


Wenn aber jeder einzelne individuelle „Unternehmer“ mit sich selbst, d.h. seinen diversen Ich-Anteilen, so verfährt, wie die Unternehmer Ihrer Utopie, dann habe ich die Hoffnung auf lauter souveräne, starke Individuen, die starke widerständige Kommunikationen machen können und sich doch im Zaum halten müssen, die expandieren können und doch auf andere notgedrungen Rücksicht nehmen müssen, die kritisieren können, aber damit rechnen müssen, auch selbst kritisiert zu werden, die sich anpassen, ohne Marionetten zu sein, die kreativ sind, ohne andere auszubeuten, die sich reich wähnen, ohne andere damit arm machen zu müssen, die sich gut wähnen, ohne andere schlecht erscheinen zu lassen, die ambivalent sind und dennoch einen eindeutigen Standpunkt erster Ordnung einnehmen, ohne sich darauf beschränken zu lassen.... usw. usf. Kann das auf Dauer funktionieren? Woher kommt dann die Spannung, auf dass es nicht langweilig wird? Vielleicht allein von der kommunikativen Stärke der sich in der Verbesserung auf sich beschränkenden Individuen?


Mir scheint der Anfang liegt im Beobachter: Ohne dass es einen Anfang gibt, muss der Beobachter von Welt immer bei sich anfangen. Er muss immer neu damit anfangen, an vorangehendes, was ein anderer Beobachter vorgibt, anschlusssicher anzuschließen. Ein guter Anfang ist, wenn man wie Sie, dabei bleibt, was man denkt, was man qua seiner angenommenen Rolle „ist“, „sieht“ und für „wahr“ nimmt und es, unbedingt und überall, als die eigene subjektive Sicht ausweist.


Das hier ist meine subjektive Sicht, die mit Ihrer subjektiven Sicht durchaus etwas anzufangen weiß. Morgen sieht Sie je vielleicht schon wieder etwas anders aus, qua unserer produktiven Kommunikation.


Ich wünsche mir jedenfalls, in des folgenden Satzes vollständigster Bedeutung, dass alle Menschen von sich sagen können, dass sie ihren Traum leben. (Denn vielleicht leben sie ihn ja und können es nur nicht sagen, oder sagen es einfach nicht? Ich meine das nicht ironisch und auch nicht zynisch, sondern verstehe „Traum“ als etwas die Kreativität der Plots und der Rollenkonstruktionen betreffend.)


Und ich bin durchaus neugierig darauf, „es“ mal zu versuchen positiv zu formulieren, mir Geschichten auszudenken, wie das zusammengehen kann, wenn jeder (m)einen Traum lebt, also welche Regeln dabei zu befolgen sind. Die stehen aber glaube ich schon alle in den 10 Geboten. Was dort nicht drinnen steht ist, dass wir die „Welt“, „Gott“, „Moses“ und die 10 Gebote konstruieren sollen, weil wir es da schon getan hatten.


Wer konstruiert „uns“? „Wer“ stellt die Frage? Immer kommt man so auf die Henne und ihr immer schon befruchtetes Ei zurück oder auf den bewussten/unbewussten Geist, der sich in sich von sich unterscheidet und Platz für Alles hat, was dann noch möglich ist...


Das nun soll keine Relativierung sein und schon gar nicht subversiv Beliebigkeit signalisieren – da ja, wenn alles geht, nicht alles geht. Paradoxie ist nicht nur das oberste Gesetz der Logik, sondern auf ihrer seltsamen Schleifenförmigkeit beruht zumindest aus meiner Sicht, auch die Konstruktion von Welt.


Wenn nun im Gehirn zu jeder Zeit NICHT nur eine Sache möglich wäre, sondern alles, was möglich ist, wäre es uns nicht möglich, wahr zu nehmen. Was wir wahr nehmen, ist das, was wir, qua Aufmerksamkeit, wahrnehmen wollen. Unser Konsens und Dissens mit den Wahrnehmungen anderer wird gesteuert durch die Ambivalenz unseres Gleich-sein-Wollens und Anders-sein -Wollens bzw. Anders-sein -Müssen, als der Andere, - bei aller notwendigen Zustimmung, um im gleichen Stück spielen zu können. Aber vielleicht erlaubt uns unsere Kreativität, unser Andersseinwollen und –müssen tatsächlich in einem friedlichen, produktiven Wettbewerb der Gedanken und Ideen produktiv zu kanalisieren?


Ich vermute ich habe jetzt den Bogen Ihrer Lese-Toleranz durch meine Selbstdarstellung bei weitem überspannt. Aber es kommt nur ein bis zweimal im Jahr vor, da ich durch die Einwände und Nichteinwände Anderer durchaus in Selbstzweifel gestürzt werden kann. Heute bin ich mir sicher, dass ich mich und meine Gedanken aus dem Stand heraus ausreichend gut darstellen kann. Ich habe deshalb ein wenig über die Stränge geschlagen. Was ich hoffentlich nicht bald bereuen muss. Herzliche Grüße