Und nun: das Wetter!

Es gibt Menschen und Institutionen, die häufig zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sind und, da sie dies auch so wahrnehmen oder auch nicht wahrnehmen, meist kein Problembewusstsein haben. Zu denen gehören ich und unsere lokale Tageszeitung manchmal. Gestern morgen veröffentlichte sie eine Sonderseite über die Hitzeperiode, brachte eine Reportage, wie die Landwirtschaft sich der Trockenheit zu erwehren gedenkt und auch diese Erste-Hilfe-Rubrik für die geneigten Leser, wie man sich, vor allem als älterer Mensch, vor der Hitze schützen kann. Also, wer es bis jetzt noch nicht weiß: Möglichst viel trinken, die Sonne meiden, nie ohne Sonnenhut und Sonnenbrille ausgehen, möglichst nicht um die Mittagszeit, nach dem (leichten!) Mittagessen ausreichend ruhen usw. Gut, dachte ich mir, das habe ich in den letzten Wochen schon mehrfach gelesen, aber das ist ja auch vornehmlich für ältere Menschen geschrieben und viele von ihnen freuen sich immer über die täglichen Neuigkeiten.

Mir aber haben diese Hinweise Probleme bereitet. Gestern um 14 Uhr fing meine 2-tägige Prüfungszeit an, (heute von 9 Uhr bis in die Abendstunden). Ich bin also in der Mittagszeit (!), gleich nach dem (zugegebenermaßen leichten) Essen (!) in den Prüfungsraum an der PH gegangen, wohlweislich mit Sonnenbrille(!), Strohhut(!) und leichter Kleidung(!). Vielleicht habe ich wegen der Brille und dem Hut auch nicht sogleich mit bekommen, dass sich inzwischen ein Wetterwechsel vollzogen hatte und es seit den frühen Morgenstunden in Strömen regnete.


Die Mitprüfer und Prüflinge haben mich ausgesprochen freundlich und zuvorkommend begrüßt und häufig nachgefragt, wie mir denn die ersten Schritte in den Ruhestand bekommen würden. Irritierender als dieses wiederholte Nachfragen fand ich jedoch die Thesenblätter, welche die Prüflinge vorlegten. Seit einiger Zeit haben wir vereinbart, dass die Kandidaten uns je 3 Thesen zu den Prüfungsschwerpunkten formulieren. Das erleichtert den Einstieg in das Gespräch und hilft den Studierenden, Positionen zu dem jeweiligen Sachverhalt zu entwickeln. Es war gut, dass ich, besorgt um meine Gesundheit, Hut und Sonnenbrille nicht abgelegt hatte, denn so konnte ich gut mein Befremden kaschieren – ich wollte jede frühzeitige Verunsicherung der Kandidatin oder des Kandidaten vermeiden. Die erste These zum Bereich „Schulversagen in systemischer Sicht“ lautete häufig: „Schulversagen (wahlweise Lernbehinderung, Intelligenz) ist ein Konstrukt, über das man von daher nichts genaues (wahlweise nichts, nur unbestimmtes) aussagen kann und das man von daher vermeiden (wahlweise mit Vorsicht genießen, durch etwas anderes ersetzen) sollte.“ Ich spürte, wie mich in meiner leichten Kleidung fröstelte (vielleicht hätte ich die Bermuda-Shorts doch im Schrank lassen sollen, - ich hätte mir dann auch die Vorhaltungen meiner Frau erspart, mit den Sandalen und den Socken sähe ich nun wirklich aus wie ein Rentner).


Was war passiert? Hatten die Prüflinge den bekannten Berliner Systemiker mit seinem Artikel „Die Kunst nicht zu lernen“ zu früh verstanden oder den Berliner Sonderpädagogik- Professor mit seinem Artikel „Lernbehinderung: Faktum oder Konstrukt?“ so verstanden, wie dieser verstanden werden wollte? Oder lag es etwa an mir – und jetzt durchlief ein Schauder meinen Körper -, ich hatte doch im letzten Semester ein Seminar „Schulversagen in systemischer Sicht“ angeboten? Gut, es gab auch noch andere Kollegen, die unablässig diese armen nicht trivialen Systeme zu perturbieren versuchten, aber dennoch .... Gerade noch rechtzeitig vernahm ich zwei Stimmen in mir. Zum einen die des systemisch Denkenden, der flüsterte: „Junge, denk an die operationale Geschlossenheit der vor dir sitzenden Systeme“ und dann, der Leser wird es erwartet haben, die Stimme von Tante Klara, die mir zuraunte: „Junge, bleib cool, es liegt am Wetter!“ Na klar, Tante Klara! Die Vorbereitungen zur Prüfung lagen in einer heißen Phase (mein Seminar im Übrigen auch) - und wir haben doch in den letzten Wochen zahlreiche Nachrichten darüber bekommen, wie das Wetter Kapriolen schlagen kann. War das Wetter nun also Faktum oder Konstrukt? „Eins von beiden“ würde der Berliner Sonderpädagogik-Kollege vermutlich sagen. „Beides“, könnte ich mir denken, würde der Berliner Systemiker äußern, „lasst uns nur unterscheiden, ob wir es als deskriptives oder als explikatives Konstrukt verwenden, so, wie ich es explikativ einsetzte, um mir weiland meine Werte auf dem Depressions-Barometer verständlich zu machen.“


„So einen Diskurs hätte es früher nicht gegeben“ mischt sich Tante Klara ein. „Zu meiner Zeit“, so beginnt sie häufig, „zu meiner Zeit fühlten wir uns eher dem aristotelischen Erklärungsmodell verpflichtet. Ein Stein fällt zu Boden, weil es seinem Wesen entspricht, schwer zu sein und das Wetter schlägt diese Kapriolen, weil es eben launisch, um nicht zu sagen wetterwendisch ist. Und ich bin vor meiner Heirat mit dem Schmeil’schen Bestimmungsbuch durch die Natur gezogen und habe, wie Naturwissenschaftlen das nun mal tun, diagnostiziert und klassifiziert, dass es eine Art war. Und an meinem Hochzeitstag, am 2.8.1931, da passierte noch etwas Erfreuliches. Da hat sich ein junger Wissenschaftler habilitiert, Kurt Lewin, deshalb könnt ihr uns jetzt mal im Doppelpack feiern. Mich, wegen des 75. Hochzeitstages (der Kronjuwelen-Hochzeit) und ihn wegen seiner Habilitation. In seiner Habilitationsschrift hat er darauf hingewiesen: Die Psychologie ist noch dem aristotelischen Denken verpflichtet, was wir aber dringend brauchen, ist die galileische Perspektive. Das wäre dann, würde Tante Klara sagen, mal ein echter Paradigmen-Wechsel. Heutzutage gibt es sicher schon den einen oder anderen Galilei. Aber einen Newton sucht man bei Euch noch vergebens, es ist schon rührend, wie, vor allem in der Pädagogik, alle Nase lang ein neuer Paradigmen-Wechsel ausgerufen wird. Dass ich nicht lache, das sind keine Paradigmen, das sind Paradogmen.“ So ist Tante Klara, wenn sie sich mal in Rage redet. Andererseits hat sie aber auch - in ihrer sanfteren Art - seit ihrer Hochzeit einer ganzen Nachfolgegeneration ein tautologisches Rüstzeug mit gegeben, fern aller galileischen Denkfiguren: Stürme, Überschwemmungen, Hitzerekorde, Klimawandel? Keine Frage: Das liegt am Wetter!


Doch so langsam macht sich ein Sinneswandel in weiten Bevölkerungskreisen breit, angeregt durch eine Zeitung, die ähnlich dem weblog Meinungswissen (doxa) zu verbreiten in der Lage ist: Die BILD-Zeitung. Die hat Wissenschaftler befragt und sie haben ihr auf die galileischen Sprünge geholfen und so kann das Blatt seine systemischen Schlussfolgerungen ziehen: Schuld an der Hitze ist eben nicht das Wetter, sondern die Konstellation der Planeten unseres (Sonnen)Systems: „Roter Planet kühlt Erde nicht mehr,“ weil er, der Mars, im Moment mal wieder ziemlich weit weg ist von der Erde. Und daher: „Es ist, als wäre der Erde die Klimaanlage weggenommen worden.“ Mein alter (Schul-)Freund bei der Frankfurter Rundschau - grüß Dich, R. P. - hat schon vermutet, dass den Mitarbeitern der BILD während der Hitzewelle weit mehr als nur die Klimaanlage weggenommen wurde, aber ich glaube -mit Tante Klara-, dass es doch am Wetter liegt (oder vielleicht am Klima –wegen der Klimaanlage?), wenn sich nun alles so entwickelt. Andererseits, wenn ich mir unter konstruktivistischer Perspektive überlege, dass vor kurzem ein neuer Planet entdeckt (?) wurde, der auch weit weg, aber extrem kühl zu sein scheint, dann kann ich nur vermuten, dass es in dem Maße auch wieder kühler wird, wie BILD-Leser von ihm erfahren.


Und spätestens an der Stelle würde meine Kollegin Angela wieder fragen: „Warum erzählst du das eigentlich alles?“ Und ich würde sagen. „Ich habe heute in der Prüfung sehr gefroren und mir ist deutlich geworden, dass wir noch ausführlicher über Konstrukte und empirische Sachverhalte, über Beschreibungen und Erklärungen diskutieren müssen. Aber das ist mir im Moment zu heiß.“ Und da kommt sie wieder, mein Kronjuwel, die Tante Klara und sagt: „Junge, es wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird!“