Übertragung/Gegenübertragung vs. Einladung zum Tanz

Das Thema entwickelt sich zur Serie. Also hier, aufgrund der Diskussion des Beitrags zur Sozialen Kognition und Außenperspektive ein paar Worte zu Übertragung/Gegenübertragung.


Wenn von Übertragung gesprochen wird, dann ist damit ein psychisches Geschehen beschrieben und zugleich erklärt (Beschreiben und Erklären zu vermischen ist immer ein  problematisch), bei dem ein Individuum auf einen aktuellen Interaktionspartner seine affektiven und kognitiven Schemata, die er früher (meist in der Kindheit) erworben hat, anwendet. Mit Gegenübertragung ist die dazu passende Reaktion des Gegenübers beschrieben und erklärt, die ebenfalls auf frühere Erfahrungen zurück geht. Dies ist auch aus systemischer Sicht ein nützliches Konzept, aber - das sollte klar sein - es beschreibt nicht (!) aus der Außenperspektive das Interaktions- oder Kommunikationsmuster, sondern erklärt bestenfalls wie es zustande kommt und/oder aufrechterhalten wird.


Das Interaktionsmuster ist viel schlichter zu beschreiben: Wenn A dies tut, dann tut B jenes und A tut dann ... und B dann ... usw.  Das ist alles rein deskriptiv, ohne alle Psychologie. Will man es erklären (d.h. Kausalität konstruieren), dann kann man dies durch die Gedanken, Motive, Ziele, Affekte usw. (psychische Ereignisse) der Beteiligten tun, muss es aber nicht. Die Interaktionspartner könnten auch ferngesteuert sein, einer Rollenspielanweisung folgen usw.


Bei Face-to-Face-Kommunikation im privaten Bereich dürfte es meistens sinnvoll sein, die Entstehung und Erhaltung von Interaktionsmustern durch psychische Prozesse zu erklären. Aber schon im beruflichen Umfeld ist das nur noch begrenzt möglich. Denn dort bestimme Rollenerwartungen zu einem guten Teil, warum sich wer wem gegenüber wie verhält. Ganz generell ist hier die Bedeutung der Psycholgie nur noch relativ gering. Es geht viel mehr um soziale Spielregeln, die befolgt werden, weil man Geld dafür bekommt, weil alle es erwarten usw. Man braucht zwar Motive (=psychischer Prozess), um mitzuspielen, aber die Psyche kann nicht die Spielregeln erklären (in Organisationen zum Beispiel). Diese Spielregeln sind aus der Außenperspektive ganz gut zu beschreiben. Eine ethnologische Perspektive ist das, wenn man so will.


Hier sind wir wieder beim Unterschied zwischen Innen- und Außenperspektive. In einer Zweiersituation in der die Rollen und Interaktionsregeln noch nicht definiert sind, spürt jeder, was als Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomen bezeichnet werden kann. Er wendet seine Erfahrungen aus früheren Interaktionen auf die aktuelle Situation an. Er reagiert auf jemanden, der auf ihn einen autoritären Eindruck macht, z.B. wie auf seinen Vater usw. Das ist - das sollte klar sein - der Blick eines Beobachters aus der Innenperspektive, d.h. des Teilnehmers an der Interaktion. In unserer Heidelberger Gruppe haben wir statt Übertragung/Gegenübertragung lieber von "Einladungen zum Tanz" gesprochen, denn es ist wahrscheinlich, wenn man den jeweils aktuellen Impulsen folgt, die möglicherweise von einem Patienten induziert werden, dass man so agiert, wie alle Leute, mit denen er analoge Erfahrungen schon früher zuhauf gemacht hat.  Auf diese Weise bestätigt man seine Erwartungen und Wirklichkeitskonstruktionen, ob man nun die Einladung annimmt oder zurückweist. Beides dürfte er schon früher oft genug erlebt haben, so dass ihm keine korrigierende Erfahrung vermittelt werden kann.


Die Einführung der Außenperspektive ist innerhalb einer Zweierbeziehung so gut wie nie erfolgreich, wenn beide Teilnehmer im Konflikt miteinander stehen. Das ist auch der Grund, warum Einzeltherapie viel schwerer ist als Familien- oder Paartherapie. Denn in der Einzeltherapie hat keiner eine (wie auch immer relative) Außenperspektive, sondern beide kreieren miteinander das Muster der Kommunikation, was dann vielleicht ein Supervisor ganz gut beobachten oder analysieren könnte. Wenn man gleich mit den zwei Leuten oder Parteien arbeitet, die sich z.B. miteinander streiten, so ist man zwar gegenüber dem Beratungssystem nicht in der Außenperspektive, aber gegenüber der Beziehung und dem Interationsmuster der Streitenden bzw. des Streits.