Über dem Tellerrand

Heute vormittag in der Bank. Nur kurze Warteschlange vor dem Schalter – das meiste erledigen die Kunden ja ohnehin schon übers Internet oder in professioneller Kommunikation mit den herumstehenden Automaten. Und der Monatserste, an dem die Pensionistinnen ihre Pension abheben kommen, weil sie noch nicht oder nicht mehr mit Internet und Automaten zurecht kommen, ist auch schon vorbei.


Ich stehe also vor dem Schalter, schaue vor mich hin und langsam sickern die affichierten Werbesprüche in mein Hirn. Besonders an einem bleibt mein Blick hängen. Eine Initiative. Mit Website: www.tellerrand.at Ein netter Herr, nennen wir ihn hier Herr Berger, ist abgebildet, und es wird ihm attestiert: „Herr Berger, Bankangestellter, schaut über den Tellerrand.“ Wie er das macht, der Herr Berger? Nun, er macht sich über den Tellerrand denkende Gedanken, die offenbar durch’s Über-den-Tellerrand-Schauen zustande kommen: „Gut, dass es die neuen EU-Länder gibt. Weil unsere Unternehmen jetzt andere kaufen, anstatt gekauft zu werden.“


Ich bin beeindruckt. Und ein bisschen verwirrt. Ich hab ja noch im Ohr, dass die Einigung Europas so was wie ein gigantisches Friedensprojekt sein soll. Überwindung des geteilten Kontinents, es wächst zusammen, was zusammen gehört, und so. Und jetzt lese ich, dass es deswegen gut ist, weil im darwinistischen Stil jetzt „unsere" Unternehmen mehr Chancen haben zu fressen anstatt gefressen zu werden. Irgendwie ernüchternd. Hoffentlich überfressen sie sich nicht. Außerdem stellt sich ja die Frage, wie das die sehen, deren Unternehmen gefressen werden (denn offenbar muss dann ja jemand anderer gekauft werden) – mit welchen Plakataktionen wird wohl dort dafür geworben, sich fressen zu lassen?


Und überhaupt wäre da noch die Verwendung des Wortes „unsere“. Wenn ich mich richtig an meinen Deutschunterricht erinnere, ist „unser“ ein Possessivpronomen, ein besitzanzeigendes Fürwort. Gehöre ich zu dem „wir“ dazu, dessen Besitz an Unternehmen hier angezeigt wird? Da wäre mal meine kleine Beratungsfirma – die kann aber nicht gemeint sein, denn weder kauft sie, noch hat sie vor, gekauft zu werden (aber wer weiß, vielleicht kommt das noch, wenn ich nicht rechtzeitig anfange, über den Tellerrand zu schauen). Dann wären da noch die staatlichen Unternehmen, an denen ich mich ja irgendwie als Mitbesitzerin fühlen könnte – aber da finden ja gerade jauchzende Börsengänge statt, in denen „wir“ schleichend massenenteignet werden. Ein „unser“ ohne Zukunft also – kann wohl auch nicht gemeint sein, wo das Plakat doch so zukunftsschwanger wirkt.


Vielleicht bin ja auch ich nicht gemeint, sondern es ist eine Botschaft der in der Bank arbeitenden Menschen – „Seht her, Kunden, unser Unternehmen kauft!“ Was aber auch unwahrscheinlich wirkt angesichts der Tatsache, dass aufgrund der laufenden Personalreduktionen immer weniger Menschen zu diesem „wir“ gehören.


Im Versuch der Klärung schlage ich, wieder zu Hause, nach, was „über den Tellerrand schauen“ bedeutet. „Offen sein für Neues, Ungewohntes; weltoffen sein; neue Eindrücke bekommen; sehen, wie andere Menschen leben; einen weiten Horizont haben“.


Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich weiß endlich, was mir das Plakat sagen will: Offen sein für die neue Perspektive, dass neue EU-Staaten dann gut sind, wenn unsere Unternehmen dort saftige Weidegründe vorfinden. Und offen sein für die ungewohnte Sicht (über den Tellerrand schauen!!), dass ich nicht nur beim Monopoly-Spielen Unternehmen kaufe, sondern – mitgefangen, mitgehangen – vermittels „unserer“ Unternehmen am großen Realspiel teilhabe. Weltoffen sein, weil dieses Spiel keine Grenzen kennt. Und sich des neuen Eindrucks erwehren, dass hier die Interessen einiger Weniger als die Interessen von uns allen verkauft werden. Die Interessen jener Weniger, die ja vielleicht wirklich so leben, wie dieselbe Bank in einem Prospekt nahe legt: „Lehnen Sie sich zurück und beobachten Sie, wie Ihr Kapital wächst.“ Und wenn man dann gesehen hat, wie diese Menschen leben, hat sich der Horizont so geweitet, wie es der beste Joint nicht zuwege bringen würde.