Turnübung

"Die schwierigste Turnübung ist immer noch, sich selbst auf den Arm zu nehmen. "

Werner Finck


Am Tag sieben angelangt, in älteren Blog-Beiträgen etwas geblättert, dabei auf den Beckett/Godot-Blog von Stefan Jung am 20. Dezember letzten Jahres gestossen. „Warten auf ... Gott, die Erlösung, eine Lösung, ein bißchen Sinn, ein bißchen Spaß, ein gutes Fussballspiel“: es gibt viele Hoffnungspillen mit mehr oder weniger versteckter post-religiöser Agenda.

Godot, Gott, aha. Verstehen wir für diese Zwecke das „Religiöse“ ganz (unhistorisch und unsoziologisch) als Bedürfnis nach Sinn, der Geburtlichkeit und Sterblichkeit unserer Existenz umschließt. Letzteres meint das Rätsel auf die Welt zu kommen, ohne sich an einen diesbezüglichen Entschluss zu erinnern beziehungsweise aus der Welt gehen zu sollen, ohne das Abonnement freiwillig zurückgeschickt zu haben. Solcher nicht nur funktionalistische „Sinn“ ist bekanntlich das wirklich rare Gut unserer Gesellschaft. „Wirklich“ wirksam: die Abwesenheit.

Der Begriff „Gott“ ist nicht mehr diskursfähig, jedenfalls nicht ohne gewaltige Erklärungsleistungen, die dann meist in einem hochabstrakten, metaphorischen „Gottesbegriff“ enden. Die Diskurs-Leerstelle läßt sich aber auch nicht durch sophisticated irony, auch nicht solche systemischer Couleur, ersetzen. Das ist langweilig und fällt als schwaches Gegenmittel besonders im direkten Kontakt mit Jugendlichen ins Auge, die gerade auf Leerstellen-Suche sind, insbesondere wenn die Lehrstelle fehlt (war kürzlich in einer Hauptschulklasse, in der 2 von 31 Absolventen eine gekriegt haben).


Hier noch mal zurück zu meinen Themenfeldern von letzter Woche „Ritual“ und „Ek-stasis“. Rituale sind Kommunikationssysteme, in denen Sprache in der Regel eine untergeordnete Rolle spielen. Wenn man so will prä- oder postreflexive Kommunikation, körpernah, an kollektiven Bedeutungen orientiert und im Fall transformativer Ritualformen eben auch mit Formen von Ich-losigkeit, Ek-stasis spielend. Insbesondere wenn man sich einige Formen von Initiationsritualen anschaut (empfehlenswert Ronald Grimes Buch „Deep into the bone“) fällt auf, dass in nicht-rationalistischen Gesellschaften scheinbar vieles getan wird, um nicht nur bei Adoleszenten einige Momente von Ich-Transzendenz zu erzeugen, von Angst, „Ergriffenheit“, Grenzerfahrung, Ekstase. (Dafür gibt’s bei uns nicht mehr viele Analogien, vielleicht noch den Erwerb des Angelscheins). Klar wird im Rahmen solcher traditionellen Initiationsrituale auch in das jeweilige Weltbild hineinsozialisiert, aber darauf kommt es mir weniger an, als auf den zu beobachtenden Versuch eine zeitweise Unmittelbarkeit des In-der-Welt-seins zu ermöglichen.

Auf Schule und Schülersein rückbezogen: Solche Unmittelbarkeit des In-der-Welt-seins ist so ziemlich das, was Schule und unseren „Lehrplänen“ am fernsten steht. Aber viele Jugendliche versuchen unbeeindruckt sich ein Stück „Unmittelbarkeit“ selber zu konstruieren, insofern lässt sich der eigentlich unmögliche Begriff der Selbstinitiation schon verwenden. (Unmöglich, weil Initiation eigentlich immer bedeutet: jemand initiiert jemanden in etwas hinein).

Und da zeigt der Blick auf Rand- und Extremphänomene, dass es bei vielen Jugendlichen eine versteckte „post-religiöse“ Agenda gibt, die im Schulsystem überhaupt nicht aufgegriffen wird.

Beispiel eins: das lustige, aber bisweilen ins leicht tragische abkippende Phänomen des (spielerisch sehr verbreiteten) „Satanismus“. Eine Vierzehnjährige erzählte mir kürzlich im Rahmen eines Interviews, sie sei „Satanistin“. Ich: was das denn genau bedeute? Sie: „Man geht auf Friedhöfe und setzt sich mit dem eigenen Tod auseinander“. Ich: mhm.

Beispiel zwei: Rauscherfahrungen. Binge-Drinking und Kampfkiffen (nicht sehr verbreitet), regelmäßiges Trinken und/oder Kiffen (recht verbreitet). Wenn man nicht nur („drogenfixiert“) danach fragt („wie viel, wie oft“), sondern auch nach dem Inhalt dieser Erlebnisse („was“), finden sich überraschend viele offene oder versteckte „religiöse Themen“ bei Jugendlichen. Beim derzeitigen Unterfinanzierungsproblem der sogenannten Suchtprävention (das sich absehbar auch nicht verändern wird), könnte man doch wahrlich die Religions- und Ethiklehrer dafür einspannen, diese Themen zu adressieren: sozusagen neue Formen von Exegese auszuprobieren ;). Dass Jugendliche gerade über diesen Bereich etwas risikieren, sich Risiken ausgesetzen, sollte auch nicht besonders erschrecken, sondern als Bedürfnis nach Ausgleich, Intensivierung, Ernsthaftigkeit, Spaß, Reaktion begriffen werden.


###Abgekoppelt##

So, ich kopple mich mit diesen Bemerkungen aus der Blog-Woche aus. Meine Versuche haben im Blog-Space nicht sehr viel Resonanz erzeugt, vielleicht war ich zu kryptisch (danke für die Versuche mich zu bekehren, Matthias), assoziativ (hat mir aber Spaß gemacht) oder habe für einige zuwenig mit systemischem Holz gefeuert (zuviel desselben ist nicht gut, oder)? Vielleicht noch der:


„Legt euch eine Clown-Nase ins Handschuhfach eures Autos. Setzt sie auf, wenn ihr nach Hause fahrt, und beobachtet die Leute. Das ist viel besser, als sich nach Feierabend einen anzutrinken.“

Charles W. Metcalf, amerik. Fernsehautor, Schauspieler u. Unternehmensberater