Theoriefeindlichkeit -

oder sollte ich lieber „Theorieangst“ sagen?! Montagabend: Seminar. Drei Studentinnen referieren. Sie haben einige Mühen, halten sich sklavisch am Text bis zu dem Punkt, an welchem im Text das theoretische Fundament dargelegt wird. Diese Passage übergehen sie kommentarlos. Auf meine Rückfrage, warum sie dies aussparen, bekomme ich zur Antwort: Das hätten sie nicht verstanden, deshalb lassen sie es einfach weg. Mein Hinweis, dass ein Seminar der Ort sei, Unverstandenes zu artikulieren und zu klären, wird mit Achselzucken kommentiert. Ich weiß nicht, wie es anderen ergeht, aber mein Eindruck in den letzten Jahren hat sich verfestigt: an Grundlagen und Grundfragen denkend zu arbeiten, wird von vielen als Zumutung empfunden. Was doch aber nichts anderes heißt, als dass Perspektiven gar nicht wahrgenommen werden wollen. Perspektivlosigkeit scheint die neue Orientierung zu heißen.


Ist es nicht aber auch eine Angst vor Herausforderungen, vor dem Unbequemen, dem Sperrigen – oder noch allgemeiner: dem Anderen. Theorie als das Andere; Perspektive als das Fremde. Der Versuch, etwas zu begreifen oder auch nur zu verstehen, wird als Affront dem „Jargon der Eigentlichkeit“ gegenüber empfunden. Das Eigentliche wie das Eigene ist umgeben von Ringmauern, die ein Selbstbild schützen sollen, das so zerbrechlich wie das Spiegelbild ist. Jean Baudrillard hat vom „Video-Stadium“ gesprochen – ergänzend kann man sagen (frei nach Lacan): Das Video-Stadium als Bildner der Ich-Funktion. Und da wird die Sache spannend.


Vor diesem Hintergrund ist es für mich noch unverständlicher, wie man auf die Idee kommen konnte, dass Studentinnen und Studenten die von ihnen besuchten Seminare und die Leistung ihrer Dozenten und Professoren evaluieren sollen. Seminare nach der Logik von Einschaltquoten zu messen, ist die Institutionalisierung des Video-Stadiums.