Tagesthese

Heute Mittag ging ich - wie so oft - mit zwei meiner Bürokollegen durch Göttingens Fußgängerzone. Ganz gemächlich tigerten wir voran. Nach einer Weile fiel mir auf, wie mühsam mir heute das ständige Ausweichen vor entgegen kommenden Fußgängern vorkam. Und schlimmer noch: es nützte nicht viel, ich wurde oft angerempelt.


Leichtes Rempeln in der belebten Fußgängerzone kommt ja schon mal vor, aber drei mal in zwei Minuten? Trotz üblichen höflichen Ausweichbewegungen? Einmal hätte mich ein Radfahrer sogar beinahe umgefahren. Ich ging weiter und unterhielt mich mit meinen Kollegen – da schon wieder...und noch einmal. Was war hier los? Was war anders als sonst?


Mir viel auf, dass ich Ähnliches schon manchmal erlebt habe. Und zwar dann, wenn ich nicht besonders zurecht gemacht bin, also ungeschminkt mit einfachem Zopf, Jeans, Pullover und Sneakers angezogen bin. Dann sehe ich wohl sehr unscheinbar, harmlos und mädchenhaft jung aus, einfach nicht bemerkenswert geschweige denn Respekt einflößend. Leuten, die irgendwie imposanter erscheinen, wird scheinbar mehr private space auf der Straße zugestanden. Meine Kollegen, beide 1.80 groß, kräftig gebaut, aber genau so gekleidet wie ich, erleben so ein Gerempel nicht. Ich auch nicht, wenn ich geschminkt, gelockt, in feinen Stoffen und klackenden Schuhen unterwegs bin.

Hm.

Meist wurde ich von Frauen angerempelt, die im Gegensatz zu mir eher fein zurecht gemacht daher kamen.

Hm.

Hallo Soziologenkolleginnen und -kollegen – bin ich einem sozialen Phänomen des sozialen Ranges unter Frauen auf der Spur oder konstruiere ich mir gerade eine ziemlich ideosynkratische Interpretation daher?


Ich werde das Rempeln abhängig von meinem Aussehen weiter beobachten und meine These weiter in der Schwebe halten. Dabei muss ich schlau vorgehen und beobachten, ohne zu beobachten, damit ich nicht durch die veränderte Erwartungshaltung mein eigenes und das Verhalten der entgegen kommenden Fußgänger beeinflusse. Also: einfach wieder rumlaufen wie immer ohne die Suchbrille und gleichzeitig unspezifisch achtsam sein. Da ist das ganze Meditieren mal sehr direkt von praktischem Nutzen ;-))


Mir ist auch klar, dass nicht nur die anderen mich sondern ich auch die anderen anremple. Nur gefühlt war ich diejenige, die ausgewichen ist und darin nicht schnell genug. Erst, als es mir zu viel wurde und ich beschloss, nicht mehr auszuweichen, sondern stur weiter zu gehen, beschwerte sich beim nächsten Rempler die betreffende Dame lautstark.


Morgen zieh ich meine Brunate Schuhe an und dazu den roten Brokatmantel, das Einzelstück aus der indischen Boutique, dazu den passenden Lippenstift und hochgesteckte blonde Locken. Dann seh ich aus wie eine brennende Weihnachtsbaumkerze. Ob es jemand dann noch wagen wird...?