Tabu Erschöpfung

Keine Pausen einlegen zu können, ja zu dürfen ist schon beinahe der Normalzustand im Arbeitsleben. Wenn ich es genau bedenke, so gilt das durchaus auch für das Private. Unter Dauerstress arbeiten, rasch heimfahren. Auf dem Weg dahin noch rasch einkaufen, dazwischen zur Post, noch Briefe fürs Büro aufgeben, daneben das Handy in der Hand, die Abholfrage der Kinder mit dem Partner besprechen... Zuhause angekommen, Essen richten, Hausaufgaben kontrollieren, irgendwelche Schulkrisen regeln... Scheinbar sollte ein normaler Tag mindestens 36 Stunden haben, oder wenigstens 28.


All das leben wir als pflichtbewusste Eltern und Arbeitende tagtäglich. Wo sind die Pausen geblieben? Wie kommt es, dass wir alle mitspielen in diesem Tempowahnsinn? Ist unsere Angst, nicht zu genügen und damit existenzielle Folgen in Kauf zu nehmen, derart dominant geworden?


Wie kommt es, dass Erschöpfung ein Tabu geworden ist? Die unausgesprochene Vereinbarung, die wir miteinander hier treffen, hat mit Themen wie Müdigkeit, Erschöpfung und menschlichen Belastbarkeitsgrenzen wenig am Hut. Nur allzu gern werden Erschöpfung und Müdigkeit in das Private verschoben. Sie hätten nichts mit der Gesellschaft als solche zu tun sondern wären einfach persönliche Schwächen des einzelnen Individuums. Muße, Ruhe und innere Einkehr werden bestenfalls ins hohe Alter verschoben. Auch das wird sich in Zukunft - glaubt man BevölkerungsexpertInnen - als Irrglaube herausstellen, da die Bedeutung von „Alter“ neu definiert werden muss. Wenn die Entwicklung der Lebensarbeitszeit weiterhin so angehoben wird, stellt sich mir die Frage, wann wir denn dann bitteschön endlich mal Ruhe und Entspannung haben werden. Ein Coachingkunde formulierte das mal so: „Wenn ich in der Kiste liege, habe ich genug Zeit zum Entspannen.“


Unsere Gesellschaft beantwortet Erschöpfung mit Abwehr und Leugnung. Dies gilt nicht (mehr) für den Begriff „Stress“. Dieser ist mittlerweile ein akzeptiertes „Wohlverhalten“. Wir alle sind gestresst. Es gibt eine Fülle von Studien, die nachweisen wie förderlich Stress sei, Eustress gäbe uns das Gefühl, wirklich zu leben, er sei unser Motor.


Zugegeben, mir geht es auch so. Wenn ein Tag so richtig „dahin fließt“ da fühle ich mich lebendig und leistungsfähig. Ein wunderbares Lebensgefühl! Ja, das ist auch gut so. Worum es mir hier geht, ist die Frage, wie viel davon ist dem Menschen zuträglich. Mehr noch, wie viel Müdigkeit dürfen wir zugeben?! Ab wann nähere ich mich der Tabugrenze? Wenn ich an meinem Arbeitsplatz über Stress klage, zeige ich, dass ich wichtig bin, dass ich engagiert bin, dass ich nicht so ohne weiteres ersetzbar bin. Aber: Wenn ich stets über Stress klage – werde ich dann nicht irgendwann einmal für unfähig oder desorganisiert gehalten?