Systemstruktur und Semantik – Betriebliches Gesundheitsmanagement

Ich habe in den letzten Tagen an den Beispielen des Dopingverbots und der Drogenprohibition zu zeigen versucht, dass für diese und andere Phänomene meist mehr als eine Funktion beschrieben werden – oder anders: das meistens mehrere Probleme konstruiert werden können, für welche diese Phänomene als Lösung beschrieben werden. Die Ausführungen haben gezeigt, dass diese Funktionen gesellschaftlich in unterschiedlichem Ausmass anschlussfähig sind und dass es sich offensichtlich lohnt, die Semantik der (aus welchen Gründen auch immer) bevorzugten Problemlösung besonders zu pflegen, um Veränderungen zu vermeiden, welche die andern Funktionen gefährden könnten – egal wie erfolglos die ‚offizielle’ Problemlösung ist und wie viele schädliche Nebenwirkungen sie hat.


An den gewählten Beispielen sollte gezeigt werden, dass Differenz zwischen dem, was vorgegeben wird (Semantik) und dem was geschieht (Systemstruktur) bisweilen riesig ist und dass die Semantik für die Veränderung (resp. bei unseren Beispielen: für die Nicht-Veränderung) oft entscheidend ist.


Zum Abschluss möchte ich mich einem Beispiel zuwenden, welches mich zur Zeit in meiner Arbeit als Dozent und Präventionsfachmann stark beschäftigt: dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement. Auch bei diesem Beispiel gibt es bisweilen grosse Differenzen zwischen der gesellschaftlichen Semantik, die Gesundheit zum Mass aller Dinge erhebt und Unternehmen als gesundheitsbeeinflussende Systeme immer mehr in die Pflicht nimmt, und den Organisationen, die eigene Strukturen und Ziele haben. Mittels dieser Differenz lässt sich vielleicht erklären, warum sich viele Unternehmen so schwer tun, Massnahmen im Bereich des Gesundheitsmanagements einzuführen – vor allem wenn es darum geht, nicht nur Gesundheitsförderung/Prävention zu machen oder ein angemessenes Eingliederungsmanagement zu implementieren, sondern die beiden Bereiche zu einem umfassenden Gesundheitsmanagement zu vereinen.


Zwei Erklärungen sind denkbar: Auf der einen Seite scheint das in der Praxisliteratur immer wieder gemachte Versprechen, dass sich ein gutes Gesundheitsmanagement auszahlt und sich so für das Unternehmen und die MitarbeiterInnen eine „win-win-Situation“ ergibt, noch nicht ausreichend anschlussfähig. Hier braucht es weitere und umfassendere Studien, welche ein positives Kosten/Nutzen-Verhältnis belegen. Unternehmen und immer mehr auch nicht profitorientierte Organisationen operieren streng nach betriebswirtschaftlichen Kriterien (Systemstruktur). Der Appell an die Verantwortung der Unternehmen den MitarbeiterInnen und „der Gesellschaft“ gegenüber (Semantik), mag in Einzelfällen fruchten; in der Regel muss sich aber auch ein „soziales“ Unternehmen an seiner zu erwartenden Bilanz orientieren. In andern Worten: Betriebe sind wie alle Systeme selbstreferentiell geschlossen, d.h. sie orientieren sich an ihrer eigenen Geschichte und an ihrer eigenen Funktion, und die ist wie gesagt in hohem Mass durch betriebswirtschaftliche Überlegungen bestimmt. Personalreduktionen in Firmen, die das gleiche Betriebsjahr mit grossen Gewinnen abschliessen, sind ein deutlicher Hinweis für diese Systemlogik.


Natürlich kann man in solchen und andern Fällen moralisierend argumentieren, nur bringt das in der Regel wenig. Effizienter ist es, den ökonomischen Nutzen eines umfassenden Gesundheitsmanagements zu betonen und mit härteren Fakten zu belegen, oder – etwa durch eine Zertifizierung – Imagegewinne zu ermöglichen, die sich aus Sicht der Unternehmen langfristig auch ökonomisch auszahlen können. Gerade bei der Betrieblichen Prävention kann man nicht ignorieren, dass das Unternehmen in der Gegenwart Kosten tragen muss, die sich erst (und nicht einmal sicher) in der Zukunft auszahlen werden. Dieses Verhältnis von sicherem gegenwärtigem Aufwand und unsicherem zukünftigen Gewinn, ist eines der Hauptprobleme der Prävention, die zwar von der Idee (Probleme frühzeitig zu verhindern, anstatt sie zu behandeln) überzeugend ist, aber im Alltag dann doch immer wieder unter diesem unsicheren Kosten/Nutzen-Verhältnis und (wegen der Vielfalt von Einflussfaktoren) unter Problemen mit dem Wirkungsnachweis zu leiden hat.


Dieses Beispiel belegt erneut, dass auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Semantik (hier: die steigende Bedeutung der Gesundheit in allen Lebensbereichen) nicht garantiert, dass sich die entsprechenden Sozialstrukturen (hier: die Strukturen von Organisationen) in gewünschtem Ausmass und Tempo anpassen. Die Eigenlogik der Wirtschaft und der nach ökonomischen Prinzipien operierenden Organisationen ist so stark, dass Veränderungen nur erwartbar sind, wenn sich die semantischen Appelle an dieser Eigenlogik ausrichten.


In diesem Zusammenhang erlaube ich mir, auf mein neues Buch im Carl Auer-Verlag hinzuweisen. In ‚Mythologie der Gesundheit – Zur Integration von Salutogenese und Pathogenese’ widme ich mich neben einer umfassenden Klärung des Gesundheitsbegriffs (und in diesem Zusammenhang: einer ‚Ehrenrettung’ der Krankheit) auch der Frage, wie die explodierenden Kosten im Gesundheitswesen in Griff zu bekommen sind, ohne die Leistungen des Systems für einen Teil der Bevölkerung einzuschränken. Ein Argument ist dabei, dass die Organisationen des Medizinsystems (Spitäler etc.) auf semantischer Ebene wohl daran interessiert und bestrebt sind, Gesundheit zu erhalten resp. wieder herzustellen, dass sie aber als ökonomisch operierende Systeme strukturell auf die Verzögerung von Heilungsprozessen und die Diagnose neuer Krankheiten angewiesen sind. Nur wenn die Strukturkraft betriebswirtschaftlicher Überlegungen gebrochen werden kann (was für die nahe Zukunft kaum erwartbar ist), wird es möglich sein, dass wirkliche Ziel des Gesundheitssystems (die Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit) zu erreichen, ohne den Aufwand ständig zu steigern und damit die Kosten in die Höhe zu treiben. In andern Worten - fachlich-professionelle Überlegungen sollten auf Kosten betriebswirtschaftlicher Argumente stärker gewichtet werden. Dabei wird es jedoch unabdingbar, auch in den fachlichen Überlegungen die Grenze zwischen dem Wünschbaren und dem sinnvoll-machbaren laufend zu reflektieren.


Ich danke Ihnen, liebe Leserinnen und liebe Leser, dass sie meinen – oft in Eile geschriebenen – Beiträgen Zeit gewidmet und sie bisweilen durch Rückmeldungen ergänzt haben.


Martin Hafen