systemische Ästhetik

Heute Nacht wage ich mich mal aufs Glatteis und stelle die Frage nach der ästhetischen Seite systemischen Denkens, mit der ich mich bislang noch nicht eingehender befasst habe. Es ist eher ein Thema, das mich gelegentlich beim Autofahren beschäftigt, wenn die Gedanken schweifen. Bin also über Widerspruch, Belehrungen oder Erweiterungen glücklich…


Gibt es eine Besonderheit der ästhetischen Qualität der systemischen Theorie?


Das Bücherregal (jedenfalls meines) antwortet auf diese Frage - natürlich - mit einem Buch. "Aestethics of Change" von Bradford P. Keeney (deutsch unter "Ästhetik des Wandels" erschienen) aus dem Jahre 1983. Wie Heinz von Foerster im Vorwort schrieb, hätte das Buch auch "Understanding understanding" heißen können. Und da gebe ich ihm recht - die Ästhetik steht nicht so im Vordergrund, sie ergibt sich eher implizit aus der Darlegung von Denkfiguren der Kybernetik 2. Ordnung.


Keeney zufolge liegt die ästhetische Dimension der Kybernetik der Kybernetik in der Erkenntnis der rekursiven, zirkulären Verwobenheit menschlicher Muster auf den unterschiedlichsten Ebenen, die auf diese Weise eine größere Ordnung ("Ecology") erschafft - in Abgrenzung zu einer interventionistischen Pragmatik des Handelns. Therapie im Verständnis von Keeney ist daher - ganz im Sinne Batesons - eine Kunst und nicht etwa Handwerk oder Technik, auch wenn sie die Beherrschung der letzteren zur Voraussetzung hat. Wir erfahren einiges darüber, was diese Kunst nicht ist, was sie aber letzten Endes ist, bleibt nur angedeutet: "Art emerges when head and heart become parts of a cybernetic system capable of ecological self-correction" (192).


Sicherlich weisen die formalen Prinzipien systemischer oder konstruktivistischer Theoriebildung ("Draw a distinction, Kreisläufe, Rekursionen, Gleichgewichte, Musterbildung usw.) eine eigene Ästhetik auf, etwa im Sinne guter Gestalten oder wohlgeformter Einheiten, so wie auch andere Theorien einer eigenen, impliziten Ästhetik (hier: Wohlgeformtheit) bedürfen, um als ausbalancierte, weitgehend widerspruchsfreie, strukturierte Einheit wahrgenommen werden zu können. Gerade Niklas Luhmann erwies sich, so finde ich, als ein Meister der Theorie-Ästhetik: er würde wahrscheinlich den Ausdruck "Theorie-Architektur" bevorzugt haben. Der Nachteil liegt natürlich auch auf der Hand: je mehr sich eine Theorie ihren innewohnenden ästhetischen Gestaltungszwängen unterwirft, desto mehr Konzessionen muss sie auch in Bezug darauf machen, was sie in ihre Struktur einbauen kann, was sie zur Kenntnis nehmen will, was sie außen vor lässt.


Beispiel: Die Idee, dass sich gesellschaftliche Funktionssysteme, die ja alle nur aus Kommunikationen bestehen, in erster Linie durch die binären Codes unterscheiden lassen, mit Hilfe derer die Operationen der Funktionssysteme strukturiert werden, ist äußerst elegant, weil sowohl einfach als auch generalisierbar, und zudem auch auf den ersten Blick völlig plausibel. Sobald man aber diese attraktive Architektur verlässt und ins Freie tritt (bzw. in ein anderes Gebäude, so sicher weiß man das ja nie), ändert sich plötzlich die Perspektive und die Begrenzungen der ästhetischen Anlage durch das ihr innewohnende Funktionsprinzip wird beobachtbar. So gibt es in der Soziologie eine interessante Debatte darüber, inwiefern bestimmte aktuelle Probleme der Funktionssysteme und ihrer Abgrenzung (z.B. von Wirtschaft und Politik, die Fritz Simon hier kürzlich zum Stichwort "Staat als Unternehmen" angesprochen hat), durch diese elegante Konzeption nicht eher verdunkelt als erhellt werden. Ich empfehle hier zur Lektüre den Band von Giegel und Schimank, den ich im systemagazin [ausführlicher besprochen](http://www.systemagazin.de/buecher/neuvorstellungen/2005/06/giegel_schimank_boachter_der_moderne.php) habe. Die vorliegende umfangreiche empirische Forschungslage zu Phänomenen und Problemlagen der einzelnen Funktionssysteme wird von Luhmann nämlich überhaupt sehr wenig, schon gar nicht systematisch berücksichtigt, sicher auch, weil dies die ästhetische Klarheit seines Ansatzes trüben würde. Auf der anderen Seite haben die meisten Empiriker eben auch mit Ästhetik nicht so viel am Hut.


Ein Zwischenfazit könnte sein: eine allgemeine Theorie braucht eine eigene ästhetische Struktur, um überhaupt die vorhandenen (kognitiven) Wahrnehmungsschemata bedienen - oder aufbrechen - zu können. Und das gilt eben nicht nur für die Systemtheorie, sondern ebenso für jede andere, natürlich auch für die Psychoanalyse (um im Bereich psychosozialer Phänomene zu bleiben), die unabhängig von ihrer Empirie oder ihrer pragmatischen Basis in ihren unterschiedlichen theoretischen Facetten eine hoch ästhetische Angelegenheit (inklusive diverser Spielarten des L'art pour L'art) darstellt. Auf der anderen Seite steht eben die Pragmatik einer Praxis, die nicht selten glaubt, auf Theorie verzichten zu können.


In unseren Wirklichkeitskonstruktionen (als Theoretiker und Praktiker) dürfte es also immer ein Spannungsfeld geben zwischen der Tendenz einerseits, Wahrnehmungen und Beobachtungen in ein ästhetisch strukturiertes Schema einzubauen, das uns Geschlossenheit, Evidenz oder gar Schönheit - wohl auf jeden Fall: Sinn - vermittelt, und einem eher formlosen, widersprüchlichen, nicht-integrierten Bestand an Daten, Beobachtungen, Erinnerungen und Gedanken, der nur selektiv Beachtung finden kann oder womöglich gelegentlich auch dauerhaft von der weiteren "Verarbeitung" ausgeschlossen wird.


Wenn man einmal davon ausgeht, dass in diesem Spannungsfeld auch Beweggründe und Motive künstlerischer Tätigkeit zu finden sind, wäre vielleicht die Frage interessant, inwiefern systemisches Denken Kunst inspirieren kann. Man kann sicher sagen, dass ein ganz wesentlicher Teil der Kunst des 20. Jahrhunderts (zumindest in den Industriegesellschaften) von der Psychoanalyse inspiriert worden ist, so wie sich diese in vielerlei Hinsicht der Kunst und Literatur als Quellenmaterial bediente (bei Freud ist das schon offensichtlich).


Der Zusammenhang von Lebensgeschichte, Identitätsbildung und Konflikt mit der näheren und weiteren Umwelt, sozusagen die Konturierung von Individualität durch Glückssuche, Leid und Versagung, ist ja nicht erst von der Psychoanalyse zum Gegenstand gemacht worden, sondern durchzieht die gesamten künstlerischen (vor allem literarischen) Äußerungen spätestens seit der Romantik, in ersten Ansätzen aber auch schon viel früher.


Die zentralen ästhetischen Elemente sind dabei die der Dramatisierung des Lebens als Problem, das erkannt, bekämpft und vielleicht gemeistert, oft aber auch als Schicksal angenommen werden muss und dabei immer mit einem dramatischen Verlauf mit konflikthaften Ausgangskonstellationen, Höhen und Tiefen, Spannungen, Intensitätssteigerungen usw., kurz: mit einer intensiven Affektdynamik einhergeht, die einer entsprechenden narrativen Entfaltung bedarf. Und erst diese Fassung des Lebens als Problem erschafft die Konstruktion des Selbst, auf das in unserer Kultur sicher niemand verzichten kann: "Ein Selbst ist jemand nur dadurch, dass bestimmte Probleme für ihn von Belang sind" (Charles Taylor, Quellen des Selbst, Suhrkamp 1997, S. 67).


Die systemische Theorie bietet mit ihrer Konzentration auf Muster, Unterschiede, Wiederholungen, Zirkularitäten, Multikausalitäten usw. keinen wirklichen Raum für Dramatik. Es scheint mir eher ein minimalistisches Ästhetik-Konzept zu sein, die Variation und Verknüpfung einiger Basiskomponenten zu immer komplexeren Einheiten, ähnlich wie in der Minimal Music, die aus wenigen Grundideen durch Überlagerung, Wiederholungen und Verschiebungen komplexe Gebilde erzeugt, oder bei den Fraktalen, die komplexe Bilder durch die endlose rückbezügliche Anwendung einzelner mathematischer Formeln hervorbringen.


Das kann hinreißend, bestechend und elegant sein, aber eben auch irgendwann langweilig werden. Es ist wohl kein Zufall, dass Konzepte wie Geschichte, Biografie, Affektdynamik usw. in der systemischen Theorie und Praxis eher eine Randexistenz fristen. Aus diesem Grund kann ich mir zwar interessante Analysen über die Oper oder die Literatur als Kommunikationssysteme vorstellen, einer systemischen Oper oder einem systemischen Roman würde ich aber spontan erst einmal Skepsis entgegenbringen.


Und gibt es nicht auch eine gewisse Problemfeindlichkeit in der systemischen Therapie? Gerade den pragmatischsten Ansatz der lösungsorientierten Therapie nach de Shazer finde ich in Bezug auf seinen ästhetischen Gehalt ziemlich öde. Das schlägt sich m.E. auch auf die Therapie-Diskurse nieder. So finde ich in der lösungsorientierten Mailing-Liste, einer wunderbaren Einrichtung, immer mal wieder sehr schöne, teils bewegende, teils bestürzende Fallgeschichten, die dann meist auch etwas von der therapeutischen Beziehung mitteilen - die Tipps und Antworten finde ich dann oft etwas ernüchternd ("schon mal die Wunderfrage gestellt?"). Der systemischen Therapie könnte eine Kasuistik gut tun, in der die Erzählung von Fällen (und das sich Einlassen auf Erzählungen) eine größere Rolle spielt.


Aber jetzt ist erst einmal Schluss mit meinen Nachtgedanken (die aufgrund eines Serverproblems erst jetzt am späten Vormittag ins Netz gehen). Vielleicht ergibt sich die eine oder andere Idee noch in einer Diskussion.