Systemisch archäologisches Tagebuch 6

Heute soll mein Tagebuch noch einmal um störungstheoretische Aspekte von Archäologie kreisen: Störung/ Leidvolles – so die systemtheoretische Prämisse – verweist auf ein komplexes Zusammenwirken von Kontextfaktoren sowie auf eigendynamische Prozesse von Systemen.


Der Niedergang der Oster-Insel legt eine Chronologie der dysfunktionalen Entwicklung eines Systems nahe, die sich wie folgt charakterisieren lässt:

Als Ausgangspunkt lässt sich das spezifische Glaubenssystem der Oster-Insel-Bewohner denken. Die Aufstellung der Statuen stellt aus heutiger Sicht einen funktionalen (Lösungs-) Versuch der Siedler dar, ihre Identität im Kontext geografischer Isoliertheit über die Zeit hinweg zu wahren.


Der spezifische Kult der Verehrung von Vorfahren erforderte einen hohen Einsatz von Ressourcen. Diese Ressourcen betrafen Rohstoffe wie Stein für die Herstellung der Steinstatuen, Obsidian für die Werkzeugherstellung, vor allem aber Holz, das für den Transport und die Aufrichtung der Statuen in riesigen Mengen verbraucht wurde.


Dies bedeutete in der Folge, dass Holz nicht oder nur unzureichend für andere Funktionen zur Verfügung stand – es fehlte für den Bau von Kanus, was eine küstenferne Fischerei ebenso verunmöglichte wie die Wahrung von Kontakten zu anderen Inseln Polynesiens (Dass diese Kontakte und der damit verbundene Austausch von Handelsgütern wie auch exogame Heiratspraktiken durchaus üblich waren, zeigt das Beispiel vieler anderer polynesischer Inseln – zwischen den Inseln der Pitcairn-Gruppe bestand ein ebenso intensives Handelssystem wie etwa zwischen den Inselgruppen von Mangareva und den 1600 Kilometer entfernten Marquesas oder den gleich weit entfernten Gesellschaftsinseln).


Zugleich band dieses Glaubenssystem die menschlichen Ressourcen: Es band Arbeitskraft, Zeit und Phantasie, welche für andere Tätigkeiten somit fehlten; die Arbeiter in den Steinbrüchen mussten von der restlichen Bevölkerung miternährt werden; der Transport der Steinstatuen erforderte einen hohen kollektiven Einsatz der Bevölkerung.


Wesentlichste Folge des Statuenbaus war die Waldzerstörung, die aufgrund der vulnerablen Bodenverhältnisse der Insel in ihrem komplexen Auswirkungen das Versiegen der Nahrungsgrundlagen der Oster-Insel zur Folge hatte (Die spezifische Vulnerabilität der Oster-Insel im Vergleich zu anderen Inseln des polynesischen Raumes ergibt sich aus folgenden Faktoren: Waldzerstörung wirkt sich auf trockenen Inseln stärker aus als auf feuchten, sie wirkt sich auf kühlen Inseln in hohen Breiten stärker aus als auf warmen Inseln in Äquatornähe; sie wirkt sich auf alten Vulkaninseln stärker aus als auf jungen; sie wirkt sich auf flachen Inseln stärker aus als auf Inseln mit größeren Erhebungen; sie wirkt sich auf kleineren Inseln stärker aus als auf großen. Fast alle der genannten Kriterien wirken sich auf der Oster-Insel nachteilig aus).


Die Geschichte der Oster-Insel legt nahe, dass menschliche Dysfunktionalität auf dem Hintergrund externer Belastungsfaktoren entsteht; sie legt zugleich nahe, dass diese Belastungsfaktoren in manchen – nicht in allen Fällen – Folge dominanter Glaubenssysteme und darauf abgestimmter Lebens- und Beziehungsweisen sind: Sie sind unter diesem Blickwinkel zuweilen selbst erzeugt, zumindest selbst mitbewirkt.


Zugleich verdeutlicht die Geschichte der Oster-Insel, dass Belastungsfaktoren dann insbesondere zur Geltung kommen, wenn ein betroffenes System sich durch eine erhöhte Vulnerabilität auszeichnet.


Zum dritten verweist die Geschichte der Oster-Insel darauf, dass dysfunktionale Systeme durch eine Logik des „Mehr desselben“ im Kontext ihrer Problem-Lösungs-Strategien charakterisiert sind: Der Statuenbau auf der Oster-Insel scheint sich in Form eines Wettbewerbs entwickelt zu haben, in dem jeder Clan versuchte, andere Clans durch immer größere Statuen zu übertrumpfen.


Die Zerstörung der Ressourcen führte zu einer dramatischen Reduktion der Nahrungsmittel. Die Geschichte der Oster-Insel ab etwa 1500 ist eine Geschichte tief greifender Entbehrung:

Kleine Steinstatuen aus dieser Zeit – moai kavakava – bilden hungernde Menschen mit eingefallenen Wangen und vorstehenden Rippen dar; auch James Cook charakterisierte die Inselbewohner anlässlich eines Besuches 1774 als „klein, mager, ängstlich und elend“. Die Folge war u.a. die Entstehung von Kannibalismus: Menschliche Knochen aus der Zeitperiode um 1600 waren zur Gewinnung des Knochenmarks aufgebrochen.


Der Hunger der Bevölkerung mündete in einen Zerfall der gesellschaftlichen Bindungen, er erzeugte Angst und Gewalt, die wiederum Angst und Gewalt nach sich zogen.


Viele Behausungen wurden aufgegeben; die Zentralgewalt der Häuptlinge ging verloren; um 1680 wurden sie durch matatoa – lokale militärische Anführer – gestürzt, es kam zu Bürgerkriegen zwischen und innerhalb der einzelnen Sippen. Viele Menschen zogen sich aus Sicherheitsgründen in Höhlen zurück, die durch Grabungen vergrößert wurden; die Eingänge wurden teilweise verschlossen, sodass ein enger Tunnel entstand, der einfacher zu verteidigen war. Lebensmittelreste, Nähnadeln aus Knochen, Gerätschaften zur Holzbearbeitung und Werkzeuge für die Reparatur der tapa-Stoffe zeigen, dass die Höhlen nicht nur als vorübergehende Verstecke dienten, sondern langfristig bewohnt wurden.


Gemäß mündlicher Überlieferung wurden um 1620 die letzten ahus und moai errichtet; anschließend wurde der Statuenbau aufgegeben; im Zuge des Zerfalls der Gesellschaft um 1980 wurden in den folgenden Jahrzehnten die Statuen umgekippt – 1868 gab es keine stehende Statue mehr; die ahus wurden entweiht. Die Steinplatten, aus welchen sie errichtet waren, wurden zum Bau von Grabkammern und Steinmauern verwendet.