Systemisch archäologisches Tagebuch 5

S. Freud, Erfinder der Psychotherapie und Sammler archäologischer Artefakte, prägte neben der Metapher von Therapie als „chimney sweeping“ auch jene von Therapie als „Archäologie des Unbewussten“.


Wird „Unbewusstes“ als Ausgangspunkt dysfunktionaler bzw. leidvoller Entwicklungen gedacht, so umschreibt archäologische Grabung die Rekonstruktion jener inneren wie äußeren Bedingungen eines Systems, welche eine Störung/ ein Leiden generieren bzw. diese/ dieses mit aufrechterhalten.


Die Notwendigkeit einer störungstheoretischen Perspektive im Kontext systemischer Therapie ist nicht unumstritten: Bekannt ist etwa deShazers unter Bezug auf Milton Ericksons formulierte Absage an störungstheoretische Überlegungen als integraler Bestandteil von Therapie: Therapie – so deShazer – müsse nicht in der Behandlung von Symptomen zugrunde liegenden Störungen gründen, sie könne sich allein in der Herstellung von Lösungen verwirklichen: „It is not necessary to have detailed knowledge of the complaint. It is not necessary even to be able to construct with any rigor how the trouble is maintained in order to prompt solution... (.) All that is necessary is that the person involved in a troublesome situation does something different“ (de Shazer, 1985, p. 7).


Anders als deShazer glaube ich, dass störungstheoretische Vorstellungen in Hinblick auf Konstruktion von Lösungen bedeutsam sind.


Eine überzeugende Verdichtung systemtheoretischer Modellbildung rund um die Genese und Aufrechterhaltung von Problemstellungen bei KlientInnen bietet G. Schiepeks „ideografische Systemmodellierung“. Schiepek verweist hier auf Prinzipien der Konvergenz - unterschiedliche Noxen/ Problemkonstellationen können analoge Problemstellungen generieren -, der Divergenz - analoge Problemkonstellationen können in unterschiedliche Problemstellungen münden -, sowie auf das „Fehlen starker Kausalität“ im Kontext komplex und autodynamisch organisierter bio-psycho-sozialer Prozesse.


Komplexität und Eigendynamik von Systemen lassen sich vor diesem Hintergrund als bestimmende Prämissen der Entwicklung dysfunktionaler Muster bzw. der Ausbildung von Problem- bzw. Leidenszuständen von KlientInnen denken.


Der Niedergang der Oster-Insel lässt sich als Beispiel der Ausbildung von Dysfunktionalität lesen. Die folgende Darstellung dieses Niedergangs ist als Versuch gedacht, die Komplexität der Entwicklung von Dysfunktionalität zu veranschaulichen.


Dass die Kultur der Oster-Insel nach ihrer Blütezeit einen Niedergang erlitten hat, lässt sich u.a. an der Veränderung ihrer Bevölkerungszahl nachweisen: Umfasste diese um 1200 n. Chr. bis zu 30 000 Menschen, belegen archäologische Funde für den Zeitraum um 1600 eine Zahl von 6000 bis 8000 Menschen, zum Zeitpunkt der europäischen Entdeckung wird die Einwohnerzahl auf etwa 4000 Bewohner geschätzt (1864 lebten noch 2000 Menschen auf der Insel; die weitere Reduktion der Bevölkerungszahl war die Folge einer von Europäern eingeschleppten Pockenepidemie wie auch eine Folge des Umstands, dass männliche Inselbewohner auf peruanischen Sklavenschiffe entführt wurden; für 1872 wird die Zahl der einheimischen Bevölkerung mit 111 Menschen angegeben).


Der Niedergang der blühenden Kultur der Oster-Insel erfolgte lange vor ihrer europäischen Entdeckung im Jahre 1722.


Pollenanalysen belegen, dass die Insel zum Zeitpunkt der Besiedelung reich bewaldet war, während sie heute eine baumlose Steppe ist.

Neben der sog. Oster-Inselpalme, die eine Höhe von über 20 Metern und einen Durchmesser von etwa einem Meter erreichte, konnten noch weitere 21 Baumarten identifiziert werden, darunter Bäume mit einer Stammlänge bis zu 30 Metern, die hervorragend für den Bau von Kanus geeignet waren. Aus der Rinde des hauhau wurden Seile gedreht, die zum Zug der Steinstatuen verwendet wurden; die Rinde der Papiermaulbeerbaumes dient der Herstellung von Stoffen, andere Stämme dienten der Produktion von Harpunen und Bootsauslegern.

Die Baumstämme waren darüber hinaus für den Transport der Statuen zu den ahus unentbehrlich: die Stämme wurden auf einen hölzernen Schlitten gebunden und so bis zu 15 Kilometer weiter transportiert; für die Aufrichtung wurden sie abwechselnd mit Stämmen angehoben und mit Steinen unterlegt, bis sie eine senkrechte Position auf den ahus einnahmen.


Eine ähnliche Reduktion bzw. Vernichtung der Artenvielfalt wie bei den Bäumen zeigt sich bei Vögeln: Die Oster-Insel war ursprünglich Heimat verschiedenster Landvogelarten, etwa von Reihern, Rallen, Papageien und Schleiereulen, während sie heute keine einzige einheimische Art mehr birgt.


Sie beherbergte darüber hinaus unterschiedlichste Seevogelarten wie Albatrosse, Eissturmvögel, Seeschwalben, Fregattvögel. Die Oster-Insel war vermutlich der wichtigste Nistplatz in ganz Polynesien, da es hier keine Raubtiere gab und sie somit eine sichere Zuflucht darstellte.


See- und Landvögel bildeten daher neben Delphinen, Fischen, Muscheln und Ratten die Hauptnahrungsmittel der frühen Siedler. Diese Nahrungsquellen änderten sich jedoch im Lauf der Jahre entscheidend: „Delphine und Fische aus dem offenen Meer, beispielsweise Thunfische, verschwanden fast völlig aus der Ernährung der Inselbewohner… (.) Bei den Fischen, die weiterhin gefangen wurden, handelte es sich vorwiegend um Arten, die in Küstennähe wohnten. Landvögel gab es in der Ernährung später überhaupt nicht mehr, und zwar einfach deshalb, weil sämtliche Arten durch zu starke Jagd, Waldzerstörung und räuberische Ratten ausgerottet wurden… (.) Von den einstmals 25 Seevogelarten nisten 24 heute wegen übermäßiger Jagd und Verfolgung durch die Ratten nicht mehr auf der Oster-Insel selbst, ungefähr neun nisten in geringer Zahl auf wenigen kleinen Felseilanden vor der Oster-Insel, und 15 sind auch dort verschwunden. Selbst die Muscheln wurden… stark dezimiert… (.)“ (Diamond, 2005, S. 136).


Die Bäume lieferten die Balken und Seile zum Transport und Aufstellen der Statuen und dienten der Einäscherung der Leichen; sie wurden abgeholzt, um Platz für Felder zu schaffen. Die Waldzerstörung setzte mit der Besiedelung ein; gemäß Roggeveen gab es zum Zeitpunkt der Entdeckung keinen Baum mehr auf der Insel, der eine Höhe von 3 Metern überschritt.

Radiokarbondatierungen belegen, dass die Zahl von Palmennüssen nach 1500 dramatisch zurückging; in Pollenanalysen ist zugleich ein stetige Zunahme von Gräser- und Kräuterpollen gegenüber Baumpollen nachweisbar – die Oster-Insel erweist sich so als Extremfall ökologischer Zerstörung: „Für die Inselbewohner ergab sich daraus die unmittelbare Folge, dass Rohstoffe und wild wachsende Nahrungsmittel fehlten, und auch die Erträge der Nutzpflanzen gingen zurück. Bei den Rohstoffen, die nun überhaupt nicht mehr oder nur noch in sehr geringen Mengen verfügbar waren, handelt es sich um alle Produkte der einheimischen Pflanzen und Vögel, beispielsweise Holz, Fasern, Rinde zur Herstellung von Bekleidung, und Vogelfedern. Nachdem es keine großen Holzbalken und Seile mehr gab, kamen Transport und Errichtung der Statuen ebenso zum Erliegen wie der Bau seetüchtiger Kanus“ (Diamond, 2005, S. 138).


Mit dem Verschwinden des Holzes fehlte auch der Brennstoff zum Heizen und Kochen, eine Einäscherung der Leichen wurde unmöglich, Mumifizierung und Erdbestattung traten an ihre Stelle.


Mit dem Fehlen von Kanus verschloss sich auch die Möglichkeit küstenferner Fischerei (für die küstennahe Fischerei griffen die Bewohner auf kleine Schilfboote zurück).

Zugleich nahmen auch die Erträge der angebauten Nutzpflanzen ab, da die Waldzerstörung eine Bodenerosion durch Wind und Regen nach sich zog.