Systemisch archäologisches Tagebuch 4

Menschliches Leben und menschliche Beziehungen - so die Prämisse narrativer Theorie - werden durch Geschichten organisiert, vermittels welcher Individuen und Gemeinschaften Sinn hinsichtlich ihrer Erfahrungen entwickeln. Diese Geschichten formen und konstituieren die Wahrnehmung, die Sinngebung, das Handeln und Interagieren von Personen.


Geschichten können als „units of meaning“ definiert werden, die einen Rahmen für die erlebte und gelebte Erfahrung von Menschen zur Verfügung stellen.

Im Kontext narrativer Theoriebildung werden Menschen als interpretierende Lebewesen aufgefasst, deren Leben durch sinngebende Prozesse organisiert ist: „It is through... stories that lived experiences is interpreted. We enter into stories; we are entered into stories by others; and we live our lives through… stories“ (Epston, 1998, p. 11).


Texte rund um das eigene Selbst, Texte rund um die eigene Biografie strukturieren menschliche Erfahrung und legen nahe, welche Ereignisse im Fluss der Erfahrung selektiv ausgewählt werden. „It is the stories that we have about our lives that actually shape or constitute our lives“ (White, 1998, p. 226).


Erzählen schließt notwendigerweise Zensur mit ein: „No sole personal story or self-narrative can handle all of the contingences of life“ (White, 1998, S. 226).

„In striving to make sense of our lives, we face the task of arranging our experiences of events in sequences across time in such a way as to arrive at a coharent account for ourselves. Specific experiences of events of the past and the present, and those that are predicted to occur in the future, are connected to develop this account, which has been referred to as a story of self narrative“ (White, 1998, p. 22).

Das Schaffen einer kohärenten Selbsterzählung ermöglicht die Erfahrung von Kontinuität und Bedeutung innerhalb des persönlichen Lebens.


Allerdings besteht der Preis dieses selektiven Erzählens darin, dass es niemals den Reichtum der gesamten persönlicher Erfahrung wiedergeben kann: „Life experience is richer than discourse. Narrative structures organize and give meaning to experience, but there are always feelings and lived experiences not fully encompassed by the dominant story“ (Bruner, 1986, p. 143).


Menschliches Verhalten und damit auch Problemphänomene sind in Diskurse, Geschichten und damit assoziierten Lösungsversuchen eingebettet. Menschen - so White - schreiben ihre gelebte Lebensgeschichte zwar auf dem Hintergrund kultureller und gesellschaftlicher Matrizen, aber sie sind zu gleicher Zeit auch AutorInnen ihres eigenen Lebens.


Aus einer störungstheoretischen Perspektive sind jene Geschichten bedeutsam, welche KlientInnen defizitär definieren. Diese Geschichten stehen häufig in Zusammenhang mit Erzählmotiven persönlichen Versagens. Es sind Geschichten, die negative Reflexionen über den „Charakter“, oder den „Wert“ jener Person, welche ihren Mittelpunkt bildet, wiedergeben.


Im Kontext problemsaturierter Erzählungen bilden sich dominante Erzählungsmuster von KlientInnen aus, welche mit einer Abwertung der eigenen Person einhergehen. Diese bestimmenden Geschichten bedingen eine Zensur alternativer Erzählungen über das eigene Selbst oder wesentliche Beziehungen: Erfahrungen, die sich auf Ereignisse beziehen, welche nicht mit der dominanten Geschichten übereinstimmen, werden ausgeschlossen.


Versucht man, die Geschichte der Blüte der Kultur der Oster-Insel als Geschichte von unten zu lesen - mit den Augen eines polynesischen Bauern oder Fischers -, so wird deutlich, dass die beiden Erzählversionen rund um eigene Biografie unterschiedliche Implikationen beinhalten: In der Erzählversion Heyerdahls ist Entwicklung bzw. die Lösung der Anpassung an eine neue Lebenswelt außeninduziert - sie ist Verdienst der nicht-polynesischen Kulturbringer.


Die „Langohren“ sind es, die über die entscheidenden kognitiven Ressourcen und Problem-Lösungs-Kompetenzen verfügen, sie erschaffen die Schrift, die entwerfen die Steingärten, sie planen die Kanäle, sie konzipieren die Steinstatuen: „Kein polynesischer Fischer“ – so Heyerdahl – „wäre in der Lage gewesen, ein solches Bauwerk zu planen, geschweige denn auszuführen“ (Heyerdahl, 1957, S. 123).


Dominante Geschichten – so die Annahme narrativer Therapie - führen zu einer Restriktion von Verhaltensmöglichkeiten und Lösungsstrategien rund um als problemhaft attribuiertes Verhalten; die somit eingeschränkten Lösungsansätze tragen ihrerseits zu einer möglichen Perpetuierung von Problemphänomenen bei. Dominante und einschränkende Geschichten limitieren den Zugang zu Lösungen: „Clients are seen as being out of contact with information about their own ressources which might assist them in handling problems as a result of the operation of restraints“ (Kamsler, 1998, p. 58).


Die mit dominanten Geschichten einhergehende Restriktion führt dazu, dass bestimmte Lösungsmuster wiederholt werden, die ihrerseits zu einer Perpetuierung von Problemen beitragen.


Lösungen - so White und Epston - evolvieren im Kontext der Wiederentdeckung alternativer Geschichten von KlientInnen über sich selbst und ihre Beziehungen, im Kontext der Wiederentdeckung von Geschichten, die ihren Kompetenzen, Fähigkeiten und Ressourcen sowie den Qualitäten ihrer Beziehung Rechung tragen.


Die alternative Erzählversion der Entwicklung der Kultur der Oster-Insel von James & Thorpe bzw. Diamond zeigt im Gegensatz zu jener Heyerdahls die polynesischen Siedler als kreative und kundige Experten des eigenen Lebens: Sie sind nicht nur ausgezeichnete Seefahrer, die gegen die vorherrschende Wind- und Meeresströmung die Oster-Insel zu erreichen im Stande sind, sie sind zudem in der Lage, ein eigenes Schriftsystem hervorzubringen, schwerste Lasten über unwegsames Gelände zu transportieren und eine einzigartige Kultur zu entwickeln.


Die alternative Erzählung ist eine Erzählung über ihre Ressourcen und Kompetenzen, über ihren Mut, ihre Weisheit und ihren Zusammenhalt.