Systemisch altern

Es gibt Bücher, denen man entgegenreisen muss. Nicht viele, die meisten finden so in den Verlag. Aber manche Manuskripte scheinen sich zu verstecken oder, wahrscheinlicher, noch gar nicht geschrieben worden zu sein, obwohl alle darauf warten: Lektor, Vertriebsleiterin, Verleger, Verlagsvertreter, Buchhändler und – wenn nicht alles täuscht – Kunden.


Einem solchen Projekt war ich in den letzten Tagen auf der Spur. Es trägt verlagsintern den Arbeitstitel „Systemisch altern“. Das ist natürlich nicht ganz ernst gemeint, hat aber den Vorteil, dass sich jeder etwas darunter vorstellen kann (wenn auch wahrscheinlich jeweils etwas anderes). Der erste, der das Thema angemahnt hatte, war Matthias Ohler von der Heidelberger Kongressbuchhandlung Auer & Ohler. Mit seinem aktuell auf das jeweilige Tagungsthema abgestimmten fliegenden Sortiment muss er selten Kundenwünsche unerfüllt lassen, aber hier musste er schon mehrfach passen.


Nun hat der Bundesverband katholischer Ehe-, Familien- und Lebensberaterinnen und -berater seine Jahrestagung 2006 unter das Motte „Leben, lieben, älter werden“ gestellt und mit dem Untertitel gleich deutlich gemacht, dass es ihm dabei nicht allein um Senioren geht, sondern ganz allgemein um „Altern als Lebensaufgabe“. „Fahr da mal hin“, sagten die Kollegen und verkniffen sich freundlicherweise den zweiten Halbsatz: „… und wehe, du kommst ohne Manuskript nach Hause!“


Das Tagungsprogramm stimmte zuversichtlich und deckte etliche der in diesem Zusammenhang denkbaren Themenbereiche ab (www.bv-efl.de). Die Tagung selbst, die gestern im thüringischen Suhl zu Ende gegangen ist, bestätigte die zunehmende Bedeutung einer „beziehungsorientierten Beratung mit älteren Paaren“ (so der Titel eines Hauptvortrags; ältere Paare meint hier das Alter ab 55 aufwärts – eine Grenze, die aus mehreren Gründen sinnvoll erscheint).


Die Hauptvorträge gingen unter anderem auf demografische Tatsachen ein. Neben der bekannten Kopf stehenden Alterspyramide erscheint bemerkenswert, dass aufgrund der höheren Lebenserwartung einerseits immer mehr Paare goldene oder diamantene Hochzeit feiern können, dass sich andererseits aber unter Paaren, die länger als 25 Jahre verheiratet sind, die Scheidungsrate innerhalb von 12 (!) Jahren (1992–2004) auf fast 22.000 verdoppelt hat. In die Zeit zwischen silberner und goldener Hochzeit (Ähnliches gilt wahrscheinlich für unverheiratete Paare) scheint einiges zu fallen, was Partnerschaften in ihrem Bestand gefährdet und Paarberatung oder -therapie angeraten sein lässt.


Die Konflikte, um die es dabei geht, sind andere als bei jüngeren Paaren. An erster Stelle wird die Sexualität genannt (70 %), dicht gefolgt von Differenzen in Bezug auf die Freizeitgestaltung (ca. 68 %); am dritthäufigsten werden Zwistigkeiten im Zusammenhang mit Haushaltsführung und Wohnung (60 %) angegeben; fast genauso viele der beratenen Paare klagen über Störungen in der Paarkommunikation. Den Knackpunkt bildet wohl die „Entberuflichung“, der Übergang vom Erwerbs- ins Rentnerdasein („Papa/Mama ante portas“), der für beide Partner mit vielfältigen Belastungen verbunden ist.

In den allermeisten Fällen ist der Hausarzt erste Anlaufstelle für Partnerschaftsprobleme von älteren Paaren. Wer Glück hat, wird von dort aus zur Beratung oder Therapie weiterverwiesen (etwa 60 % der Medikamente, die an Menschen über 65 verschrieben werden, gelten als überflüssig).


Bei der Arbeit mit älteren Paaren handelt es sich nach Darstellung von Michael Vogt (Essen) in den meisten Fällen um eine begrenzte Beratung zu konkreten Konflikten, mit nachvollziehbaren, überprüfbaren Zielen. Diese Arbeit sei nachweisbar sehr erfolgreich und auch für den Berater sehr befriedigend, weil das Verhältnis zu den Klienten oft vertrauensvoller und konstruktiver sei als in anderen Beratungssituationen.


Dass das Thema insgesamt noch „in der Anfangsphase steckt“ (M. Vogt), hat sich auch in den Gesprächen gespiegelt, die ich mit Referenten führen konnte, denn natürlich hatte noch niemand ein fertiges Manuskript in der Tasche. Aber das Exposé für unser Projekt „Systemisch altern“ ist viel konkreter geworden, wir haben kompetente Ansprechpartner gefunden, und insofern war die Reise ein Erfolg.


Übrigens: Das Thema der EFL-Jahrestagung 2007 wird voraussichtlich „Resilienz“ sein. Aber dieses Manuskript liegt Göttinseidank schon auf meinem Schreibtisch.


Ralf Holtzmann