System Angie

Mir kommt es so vor, als sei mit der Aussicht auf eine Bundestagswahl das Interesse an politischer Diskussion bei mir und in meinem Umfeld sprunghaft gestiegen. Vielleicht sollte die Bereitschaft zur politischen Diskussion als Bewertungsparameter in das Simon’sche Depressionsbarometer eingeschlossen werden. So eine Art alternatives „incentive“: statt Wahlversprechen sinkt oder steigt das Depressionsbarometer mit der geistigen Beteiligung der Bürger an der Auseinandersetzung um ihr Gemeinwesen und seine Verfasstheit.


Andererseits erkläre ich mir das gesteigerte Interesse auch dadurch, dass die Inszenierung der Volksvertreter und Regierungsrepräsentanten zunehmend seinen Spaß- und Unterhaltungswert für die Bürger verloren hat und die Wähler einen kurzen, inhaltlichen Wahlkampf der in den letzten Jahren vorherrschenden Eventpolitik vorziehen.


Zum Beispiel heute morgen: eine Diskussion im Radio, bei der Hörer, Moderator und Fachjournalist über das „Kirchhof-Modell“ einer Steuerreform diskutieren. Die wesentlichen Statements rankten sich dabei um die Umfelder „Gerechtigkeit“ „Politiker“ und „Lobbyisten“. Im Hinblick auf mein gestern formuliertes Ansinnen, diese Woche über das (mein) Verhältnis von Einheit und System nachzudenken, interessiert mich hier vor allem die „Organisation“ von Politik. In ihr kommt ja eine fundamentale Spaltung des öffentlichen Bewusstseins zum Tragen. Es geht ja schon länger nicht so sehr um die politische Willensbildung und –Kanalisierung sondern um die Organisation der politischen Durchsetzbarkeit.


Woran erkennt man Politiker? Daran dass sie „politisch“ denken. Bei der Wahlklientel schlecht ankommende „Politik“ wird so zu „schlechter“ Kommunikation umgedeutet. Als wäre der Mangel an Rückkopplungsschleifen zwischen „Wählern“ und „Politikern“ alleine durch die Optimierung ihrer Öffentlichkeitsarbeit zu heilen. Allenfalls geht es dann noch um die Frage, ob ein „Nicht-Politiker“ im Haifischbecken der Politik überleben kann (als könne ein ehemaliger Verfassungsrichter in Deutschland nicht politisch denken oder hätte keine Erfahrung mit Politik!). In der Politik geht es immer um Machtverteilung, um das Balancieren von Interesse und das Lancieren von Einfluss – und eben auch um die hässliche Seite der Machtausübung. Und die zeigt sich am stärksten in der Organisation politischer Willensbildungsprozesse. Konsequent erscheint mir dann auch heute Nachmittag ein Artikel auf der Website des „Handelsblatt“: unter der Rubrik „Global Reporting“/ Autorenteam Berlin finde ich einen Artikel mit der Überschrift „Angie auf allen Kanälen – oder wie die Kandidatin ein Comeback schafft“… [www.handelsblatt.com](http://blog.handelsblatt.de/berlin/eintrag.php?id=37)


Apropos „Wähler“: hat eigentlich noch keiner bemerkt, welche geistige Leistung die Kommunikatoren politischer Inhalte mit dem Begriff „Wähler“ vollziehen? Aus Teilnehmern an einem Gemeinwesen (Bürgern) werden per Komplexitätsreduktion „Wähler“ gemacht! Ein treffendes Beispiel dafür war ja für mich die Stoiber’sche Entgleisung der letzten Woche, welche zunächst zur „Wählerbeschimpfung“ verunglimpft wurde. „Kollektive Bürgerbeschimpfung“ wäre jedoch treffender, tragen doch alle noch heute am damaligen, „vereinigungsbedingten“, Politikstil mit! Dass aus dem „Solidaritätspakt“ kein Soliditätspakt wurde, kann man bedauern – nicht aber, dass sich die Folgen eines (psycho-politischen) Tausches – „Wählerstimme“ gegen „Verdrängung“ (=im Hinblick auf die grundlegenden Legitimationsproblematiken des Kapitalismus eine Lösung „Mehr desselben“) - ökonomisch auswirken und noch lange auswirken werden. Und interessanterweise wird ja „Gerechtigkeit“ immer wieder von denen gefordert, die selbst nicht von „Ungerechtigkeit“ betroffen sind… Oder sollten wir uns besser darauf einstellen, dass der Wähler der Zukunft eher zum Konsumenten politischer Unterhaltung mutieren wird? Spätestens dann wäre die Zeit gekommen, eine politische Paycard mit biometrischen Daten einzufordern!


Einem von mir geschätzten und weisen Menschen verdanke ich seit vielen Jahren die Einsicht, dass ich im Blick auf die Politik nur eine Wahl habe: entweder mich selbst politisch zu beteiligen oder wertzuschätzen, was „Politiker“ auch „können“! Wenn ich die letzten Jahre dazu reflektiere, bin ich gewissermaßen einen Handel mit mir eingegangen: ich habe mich gegen das erstere entschieden und am zweiten arbeite ich in Form einer geistigen (oder spirituellen) Übung…

Aber solange Zappen noch nicht besteuert wird, übe ich mich hin und wieder auch ein bisschen in politischem Ungehorsam… In der betriebswirtschaftlichen Theorie beschreibt man ein solches Verhalten mit „Opportunitätskostenrechnung“. Zumindest buche ich es auf dieses Konto ab.


Andererseits gibt es ja auch noch den Ausknopf – und den auch am PC (was ich manchmal vergesse, was wiederum mikropolitische Konsequenzen mit meiner Liebsten nach sich ziehen kann)! Also: für heute erst einmal Schluss!