Strassenfeger

Es gibt in Berlin mehrere Obdachlosen-Journale. Sie werden in der Regel von irgendwelchen, ehr jungen Menschen in der U- oder S-Bahn mit schwer erträglichem, leiernden, Mitleid heischenden Tonfall zum Kauf angeboten (z.B. 1 Euro 20 für den "Strassenfeger"). "Ich würde mich auch über eine Spende freuen."


Auf einer Fahrt vom Savignyplatz bis zum Hackeschen Markt hat man mit zwei bis drei solcher "Verkäufer" zu rechnen.


Manchmal kaufe ich solch ein Blatt (schlechtes Papier) - allerdings nicht, um es zu lesen, sondern um mir mein soziales Engagement zu bestätigen, obwohl ich den leiernden Tonfall als ästhetische Beleidigung erlebe. Ich stecke das Blatt dann in die Manteltasche und vergesse es, bis ich es dann irgendwann wieder entdecke und wegwerfe.


Ganz anders vorgestern. Erst habe ich es natürlich genauso gemacht, d.h. den Strassenfeger in die Manteltasche und vergessen. Dann aber - am Abend - bin ich im Fahrstuhl stecken geblieben. Natürlich hat der Notruf nicht funktioniert. Glücklicherweise war die Batterie meines Handys noch nicht ganz leer, so dass ich trotzdem um Hilfe rufen konnte. Es sollte 20 Minuten dauern bis zur Befreiung...


Da --- das war sie, die Stunde des Straßenfegers. Ich hatte mich schon damit abgefunden, über mich und die Welt nachdenken zu müssen, weil ich - blöd wie ich nun mal bin - kein Notfallbuch bei mir hatte (was zur Grundausrüstung jedes zivilisierten Menschen gehört wie der Flachmann beim Alkoholiker), aber dann entdeckte ich den Strassenfeger in meiner Manteltasche. Wunderbar.


Allerdings: Ich habe keine Ahnung mehr, was drin stand. Aber keine Notwendigkeit nachzudenken über mich, die Welt, meinen begrenzten aktuellen Lebensraum, die Finanzkrise usw.


Mein Tip: Immer solche Heftchen kaufen!