Stigma

In dieser Woche habe ich mir als Lektüre Erving Goffmans „Stigma“ vorgenommen: „Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“. Ich soll es für die Rubrik „Klassiker wiedergelesen“ im „Kontext“ besprechen. Meine zerfledderte und bemalte Ausgabe aus den 70er Jahren habe ich leider nicht mehr gefunden. Das ist traurig, wie der Verlust bestimmter Fotografien, die man nicht mehr neu aufnehmen kann.


Mit manchen Büchern geht es mir wie mit Urlaubsorten. Ich suche gerne Plätze auf, an denen ich schon mal gewesen bin. Die schönsten Entdeckungen mache ich da, wo ich mich vermeintlich schon ganz gut auskenne, wo ich nicht mehr in erster Linie mit Orientierungsverhalten beschäftigt bin. Das schafft eigentümliche Freiheiten. Ich genieße dann die Verknüpfungen von aktuellem Erleben und Erinnerungen, von Gegenwart und Vergangenheit, die einen zunehmenden inneren Reichtum entfalten. Das ist für mich das schöne am Älterwerden. Gelesene Bücher noch einmal zu lesen führt zu genau dieser Verdoppelung: ich lese erneut und rekonstruiere zugleich aus meinen Spuren meine frühere Lektüre.


Nun halte ich ein unberührtes Suhrkamp-Bändchen in den Händen, das der Verlag mir zugeschickt hat. Kein Literaturverzeichnis, aber viele Fußnoten. Schon jetzt erkennbar, dass Goffman sich nicht sonderlich für den Mainstream seiner soziologischen Zunft interessiert hat, sondern ganz eigene Wege ging. Ein Großteil seiner Fußnoten bestehen aus Hinweisen auf Quellen seiner zahlreichen Zitate aus Tageszeitungen, Magazinen und Büchern, die seine genauen Beobachtungen illustrieren. Beim Lesen stellt sich sofort der vertraute „Goffman-Sound“ ein. Ohne Umschweife wird man in das Thema hineingezogen, die Tonlage ist beschreibend, eher erzählerisch, zentrale Einsichten werden eher beiläufig vermittelt und sollen vom Leser erschlossen werden. Und ich erinnere mich auch allmählich an meine erste Lektüre, noch aus der Position dessen, der in der Stigmatisierung vor allem den moralischen Skandal sieht und weniger den zugrunde liegenden sozialen Mechanismus.


Das Buch wurde 1963 geschrieben und 1967 von Frigga Haug ins Deutsche übersetzt. Aus heutiger Sicht erstaunt die Unbefangenheit, mit der in diesem Buch Wörter wie Krüppel, geistig Defekte, Neger, Zigeuner, Berufsverbrecher, Geisteskranke usw. benutzt werden, Wörter, die man heute allenfalls in Anführungszeichen setzen kann, weil ihr Gebrauch mittlerweile selbst moralisch stigmatisiert ist. Gleichzeitig wird bei der Lektüre aber deutlich, dass der zugrunde liegende Mechanismus der Stigmatisierung auch heute noch überall anzutreffen ist. Das Problem der Stigmatisierung ist offensichtlich nicht durch Sprachregelungen und semantische Operationen in den Griff zu bekommen. Eine Einsicht, die vielleicht dem Optimismus Einhalt gebietet, dass unsere soziale Welt allein durch die Veränderung der Sprache zu ändern sei, da sie ja auch nur durch Sprache existiere.


Die Goffman-Lektüre macht schon gleich zu Anfang deutlich, dass die Stigmatisierung weniger mit der bewussten Verwendung sprachlicher Etiketten zu tun hat, als mit der Routinisierung sozialer Begegnungen: „Die sozialen Einrichtungen etablieren die Personenkategorien, die man dort vermutlich antreffen wird. Die Routine sozialen Verkehrs in bestehenden Einrichtungen erlaubt es uns, mit antizipierten Anderen ohne besondere Aufmerksamkeit oder Gedanken umzugehen. Wenn ein Fremder uns vor Augen tritt, dürfte uns der erste Anblick befähigen, seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine ,soziale Identität‘ zu antizipieren. (…) Wir stützen uns auf diese Antizipationen, die wir haben, indem wir sie in normative Erwartungen umwandeln, in rechtmäßig gestellte Anforderungen. Es ist typisch, dass wir uns nicht bewusst werden, diese Forderungen gestellt zu haben, auch nicht bewusst werden, was sie sind, bis eine akute Frage auftaucht, ob sie erfüllt werden oder nicht. Zu diesem Zeitpunkt bemerken wir wahrscheinlich, dass wir immerzu bestimmte Annahmen darüber gemacht hatten, was unser Gegenüber sein sollte“ (S. 10).


Die Skandalisierung von Stigmatisierung als soziale Ausgrenzung ist notwendig und berechtigt, hebt diese Mechanismen aber nicht auf. Semantische Kosmetik alleine (Political Correctness) verkleistert diese Ausgrenzung womöglich und macht sie unsichtbar, ähnlich wie die Streichung des Wortes Hunger durch die US-Regierung und sein Esatz durch „Food Insecurity“ versucht, den Hunger unsichtbar zu machen. Goffman kann uns zeigen, dass es weniger auf die Worte ankommt, mit deren Hilfe Bezeichnungen vorgenommen werden, sondern eher auf ein Verständnis des Prozesses der Bezeichnungen selbst und seine Funktion in der sozialen Interaktion.