Sommerpause

Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser!


Der Sommer bringt, so wie auch die systemischen Kehrwochen zeigen, Pausen mit sich, Zeiten, die etwas anderes beinhalten als der Alltag, der davor und danach gültig ist. Alltage können sehr unterschiedlich aussehen. Viele dieser Alltage in unserer Leistungs-, Arbeits- und Konsumgesellschaft sind dadurch gekennzeichnet, dass viel zu tun ist. Ob in der Arbeit, in der Freizeit oder Familienzeit, handeln ist gefragt, erleben ist gefragt, produzieren und konsumieren und darüber berichten können, welche äußerlichen Geschehnisse die Welt bewegen. Ruhelos geht es dahin, ein Ereignis jagt das nächste, je höher das Tempo, desto berauschender die Wirkung.


Verinnerlichung scheint im Alltag aus der Mode gekommen zu sein. Dafür aber gibt es Urlaubs-Angebote, die Seelenheil versprechen oder zu mindest einen Weg, dahin zu kommen. Rückzugsmöglichkeiten auf einsame Inseln oder in Klöster beispielsweise erlauben Ruhe, Stille, Einfachheit und Rückbesinnung. Die sich im „normalen“ Alltag nicht ausgehen? Weil ohnehin schon so vieles da ist, das den 24-Stunden Kuchen eines Tages füllt? Menschen, die Mußegang zu ihrem legitimen Sein erheben, werden als LebenskünstlerInnen beschrieben. Wohl weil wir uns dieses Sein nicht anders vorstellen können, in der Dynamisierung und Beschleunigung, in der wir leben, die uns treibt?


Die Einteilung der Zeit in Stunden, das messbar machen der Zeit hilft uns für unsere eigene Orientierung. Einerseits. Andererseits suggeriert diese Ordnung Kontrolle, auch die Kontrolle über eine ungewisse Zukunft, die durch Fristen und Termine definiert wird und damit scheinbare Sicherheiten produziert. Dies gilt sowohl für mich als einzelne, als auch für sozialer Gefüge, wie Organisationen oder Gesellschaften, um einmal einen großen Bogen zu spannen.


Und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, wird Zeit knapp. Niklas Luhmann schreibt dazu: „Zeit an sich ist nicht knapp. Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht erst aus der Überforderung des Erlebens durch Erwartungen.“ und „Unter der Bedingung hoher Komplexität wird Zeit knapp“ (1) - da wir also in solchen komplexen Gesellschaften leben, kommen wir wohl nicht aus.


Oder doch? Ist es möglich, Eigenzeiten(2) in ihren Unterschiedlichkeiten bestehen zu lassen? Sich den Luxus zu gönnen, die Lebenszeit dem eigenen Rhythmus entsprechend zu gestalten? Die Konstruktion der eigenen individuellen Realität benötigt Macht, im positiven Sinne des Gestaltungsspielraums. Damit kommt also zur Frage der Lebenszeitgestaltung sehr rasch die Frage nach der Ökonomie und sozialen Stellung, wenn ein kurzer Weg gegangen werden darf. Auch die Frage nach den Geschlechterverhältnissen bleibt davon nicht unberührt, ist doch gerade die Zeiteinteilung von Frauen oftmals strikt extern vorgegeben oder extrem fragmentiert. Verfügbar sein als existenzielle Definitionsmerkmal. Zeit bedeutet in unserer ökonomisierten Welt auch Geld - oder umgekehrt - und davon haben immer weniger immer mehr, immer mehr immer weniger. Und die, die mehr davon haben, können sich leichter ihre Nischen schaffen, ihre Eigenzeit zu strukturieren, so eine These. Oder ist eben dieser Zusammenhang ein zu einfach gedachter, einer der auch – wie – gelöst werden kann?


Reflexionszeiten können geschaffen werden, Institutionen, die für diese Reflexionszeiten Verantwortung übernehmen. Wissenschaften, Ethik, Feminismus, Evaluation (3,4,5) beispielsweise können als Anbieter solcher Art von Aus-Zeiten auftreten. Damit gibt es wieder etwas zu tun. Denken nämlich, über das Handeln, und mit anderen darüber reden. Und das möglichst strukturiert (und schnell?) mit Rückbezug auf einen immer neu zu verhandelnden Kontext. Ist das nun ein Ausweg aus dem übervollen Tagesprogramm? Immerhin bedeutet es Unterbrechung des einen Tuns durch ein anderes und damit eine Abkehr vom „mehr des Gleichen“. Zu mindest auf einer Ebene. Auf anderen Ebenen bleiben Sehnsüchte, bei mir jedenfalls, bestehen.


Verinnerlichung, Pausen und Langsamkeit als unmodern gewordene Erscheinungen ermöglichen, denn das wäre geradezu paradox, keine Beschleunigung in der quantitativen Zeit. Sollen sie ja auch nicht. Vielleicht aber können über sie neue alte Zeitqualitäten entstehen: „Eigenzeiten der Seele“ (6).


(1) Luhmann, Niklas: Die Zukunft kann nicht beginnen: Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft. In: Slotersijk Peter (Hrsg.): Vor der Jahrtausendwende. Bd 1 Suhrkamp, Frankfurt 1990, S. 131f; Luhmann, Niklas: Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten. In: Verwaltung, 1, 1968 S. 13. zit. n. Nowotny, 1993, S. 136


(2) Nowotny, Helga: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Suhrkamp, Frankfurt. 1993


(3) vgl. Krainer, Larissa: Feministische Aus-Zeit? Zur Rolle des Feminismus als gesellschaftlicher Reflexionsinstanz. In: Neissl. Julia (Hg.): der/die journalismus. Geschlechterperspektiven in den Medien. StudienVelag, Innsbruck 2002. S. 69-89;


(4) vgl. Heller, Andreas und Krobath Thomas (Hrsg.): OrganisationsEthik. Organisationsentwicklung in Kirchen, Caritas und Diakonie. Lambertus, Freiburg im Breisgau 2003


(5) vgl. Heimerl, Katharina und Heller, Andreas: Systemische Evaluation. In: Grossmann, Ralph (Hrsg.): Besser Billiger Mehr. Zur Reform der expertenorganisationen Krankenhaus, Schule, Universität. Springer, Wien New York. 1997, S. 78-79; Zepke, Georg: Reflexionsarchitekturen. Evaluierung als Beitrag zum Organisationslernen. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2005


(6) Heintel, Peter: Innehalten. Für eine andere Zeitkultur. 3. Auflage. Herder spektrum, Freiburg im Breisgau. S. 91ff